Kryptozoologie

In den frühen Morgenstunden trifft man auf seltsame Tiere. Der Trinker und der Pianischt auf der Jagd nach noch unbekannten Arten.

Ich weiß noch immer, was ich letzten Sommer getan habe. Zumindest das meiste davon. Damals habe ich das Tier zum ersten Mal gesehen, „asch Viech“, wie’s der Pianischt nennt. Unsere allererste Begegnung war sehr kurz. Es huschte knapp vor mir über die morgendämmrige Straße und verschwand in den Büschen vor dem Kunsthistorischen. Nur so viel konnte ich erkennnen: es war definitiv kein Hund, hatte mehr von einem Fuchs, war aber, wenn ja, dann ein komischer. Nicht lange danach bot sich die Gelegenheit zur Jagd. Das Bendl sperrte schon um fünf – wer hätte das gedacht? – und der Weg ins Café Drechsler führte fast zwangsläufig am Kunsthistorischen vorbei. Und ja, da war es wieder! Bin ihm natürlich sofort nachgerannt, hab’ es sogar fotografiert. Aber später war nichts zu erkennen, weil mir der Blitz fehlt am Handy. Der Pianischt hat zwar Blitz am Handy, und er hat es natürlich auch gesehen, nur interessiert hat es ihn nicht sonderlich: „Ja mei, war halt irgend a Viech.“

„Spinnst du, das war vielleicht eine noch unbekannte Art“, erwiderte ich, aber er blieb unbeeindruckt. Hab’ ihn dann noch nachgescheucht, den Pianischten, samt seinem Handyblitz, aber ihm fehlte jegliche Motivation und das Tier war längst verschwunden. Ich hatte es aber diesmal länger und genauer betrachten können. Sah aus, als hätte sich einst ein Hund mit einem Fuchs gepaart, aber beweisen ließ sich das nicht. Zwar hätt’ ich da ja einen Zeugen, aber als solcher taugt der nichts.

Letztens hab’ ich wieder eins gesehen. Rannte vor mir auf der Straße. Dachte zuerst, eine Katze oder ein Ratz. Dann aber hat es Flügel ausgebreitet und ist davongeflogen. Direkt vor mir!
„Fliagl?“, fragt der Pianischt.
„So wie bei einer Fledermaus“, sage ich, „nicht wie bei einem Vogel. Ganz sicher eine unbekannte Art“.
„Am End’ woasch da Teifl“, sagt der Pianischt und lacht. Er hat’s halt nicht so mit noch unerforschtem Getier.

Es folgten dann später noch heftige Diskussionen, etwa mit dem Verbissenen. Der glaubt überhaupt nicht an unbekannte Arten mitten in Wien. Redete was von weißen Mäusen, dabei hat er schief gegrinst, und auch die ExEx hatte ganz eindeutig Spaß. Aber nun kam der so genannte Akademikerball und danach „Der Report“ im ORF. In der allerletzten Einstellung, quasi im Abspann des Beitrags, war die Rede davon, dass nach all der Aufregung, dann, wenn alle Demonstranten verschwunden sind, sich die Tiere der Stadt ihr Revier zurückholen. Und was war zu sehen? Genau: „Asch Viech!“ Es blickte ganz kurz in die Kamera und sprang dann sofort in die Büsche vor dem Kunsthistorischen. Dank TVthek hat der Pianischt einen Still gemacht, der endgültige Beweis, wie ich damals meinte.

Aber was sagt der Verbissene? „Völlig eindeutig. Ein Fuchs!“ Und ausgerechnet die ExEx gibt ihm Recht, die wirklich jeden Fuchs erkennen würde, immer vorausgesetzt, er schaut aus wie Robin Hood im Disneyfilm ihrer Kindheit. Zugegeben, nach dem Bild könnte selbst jemand, der ganz genau weiß, wie ein Fuchs aussieht, unter Umständen diesen Schluss ziehen. So deutlich war auf diesem unscharfen Bild der Hundeanteil dann auch nicht zu erkennen. Aber die haben alle leicht reden, keiner von ihnen hat es je in freier Wildbahn und aus der Nähe gesehen. Tja, ich hätte da zwar einen Zeugen, aber der interessiert sich eben nicht für unbekannte Viecher, völlig egal, ob Hundefüchse oder Flugratzen.

Der Trinker würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Denn sein Bier schmeckt ihm nur in guter Gesellschaft. Ansonsten hält er es mit George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Geboren tief im Süden, im Jahre Woodstock, lebt er seit bald zwanzig Jahren in Wien. Wie alle „Zuagrasten“ aus der Provinz wollte er diese hier vergessen. Nüchtern gelingt das nur schwer, trägt doch jeder seine ganz persönliche Provinz mit in die Hauptstadt, wo sie dann auf die gelebte Provinz der Wiener trifft. Erst Alkohol weicht die Grenzen auf, beseitigt Hürden der Vernunft und lässt entstehen, was eine Weltstadt ausmacht: Freiheit. Er würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Trinken ist für ihn ein Spiel mit der Realität, Wahnsinn auf Zeit, Eintrittskarte zu einem Schauspiel, wo Absurdes Theater nüchternen Alltag von der Bühne fegt. Wenn dann Masken und Etikette fallen, wird alles möglich und der Mensch lässt sich nicht länger verstecken. Auf die Begleitung seines Hirns muss man dort verzichten, und der Bauch spricht eine völlig andere Sprache als der Kopf. Die wichtigsten Dinge im Leben, davon ist er überzeugt, muss man fühlen, rational lassen sie sich nicht erfassen. Wie also nüchtern diese Welt betreten, mit unseren durch Jahrtausende der Zivilisation verkümmerten Sinnen? Unmöglich! Was hätte die Menschheit ohne Alkohol schon vollbracht? Es gäbe wohl nur die halbe Kunstgeschichte, wahrscheinlich die schlechtere Hälfte. Grenzen sind Illusion, das hat er erkannt, aber auch, dass Grenzenlosigkeit in die Leere führt. Sein Bier schmeckt ihm erst in guter Gesellschaft, und ist sie wirklich gut, dürfen Runden auch weit länger dauern als bis zum frühen Morgen. Künstler, Lebenskünstler, echte Wiener und andere Wahnsinnige, sie alle bevölkern seine Reise entlang dem schmalen Grat zwischen Sucht und Abstinenz.