Ein Wohnzimmer im Hauptbahnhof

Spenden Sie eine Partie!

Wahrscheinlich haben Sie aufgrund des Titels dieser Kolumne bereits eine Vermutung, worum es hier gehen könnte. Vielleicht haben Sie sich sogar nur deshalb hierhergeklickt, obwohl Sie noch nie in Ihrem Leben eine Schachkolumne gelesen haben. Weil es Ihnen nicht wurscht ist, was sich derzeit von Syrien oder anderen Ländern bis hin nach Schweden abspielt, und Sie finden, dass wir verpflichtet sind, Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, zu unterstützen; weil Sie glauben, wir schaffen das.

Flucht

Flucht ist der erzwungene Versuch, einer Gefahr zu entgehen. Das kann eine unmittelbare Gefahr gegen Leib und Leben sein oder die Gefahr, dass die eigenen Kinder in einem Land mit schlechter medizinischer Versorgung an einer banalen Krankheit zugrunde gehen. Wer flieht, gibt sein bisheriges Leben oft vollkommen auf – zumindest seinen materiellen Besitz, den er im Normalfall nicht zur Gänze tragen kann. Was er in sich trägt, sind freilich sein Wissen, seine Erinnerungen, seine Leidenschaften. Die nimmt er mit, die begleiten ihn auch anderswo.

Schach ist so eine Leidenschaft. Schach kann – wie alle Spiele – auch eine Flucht sein, eine Flucht vor der Realität. Es kann aber das Gegenteil von Flucht sein, nämlich eine innere Einkehr ermöglichen, ein Stück Zuhause geben, Gemütlichkeit, Entspannung. Eine Partie Schach zu spielen ist ein Augenblick Normalität, denn wer würde in einem Moment höchster Anspannung und Angst ein paar Holzfiguren in die Hand nehmen, während das Licht flackert, draußen Bomben einschlagen und Menschen schreien?

Ankunft

Das lateinische Wort dafür lautet Advent. Eine Ankunft ist das Ende jeder Flucht, in der Bibel war sie das Ende der Herbergssuche von Maria und Joseph. Man muss kein gläubiger Christ sein, um die Parallele zu erkennen und das, was zu tun ist. Derzeit kommen jeden Tag Flüchtlinge am Wiener Hauptbahnhof an. Am Ende der Bahnsteige 3 bis 12 befindet sich die Hilfsinitiative Train of Hope, die Grundbedürfnisse stillt, aber sich auch ein Ziel darüber hinaus gesetzt hat: Den Flüchtlingen wieder einen Moment Ruhe zu geben, Ablenkung zu ermöglichen von ihren Sorgen. Zum Beispiel in Form einer simplen Schachpartie.

Seit Anfang Oktober fahren Menschen mit einem Schachset unter dem Arm nachmittags zum Hauptbahnhof, setzen sich dort an einen Tisch, bauen ihre Figuren auf und sind in Kürze umringt von Neugierigen. Ein paar Worte werden gewechselt, schon sitzt jemand auf der anderen Seite des Bretts, es wird gezogen, es wird inne gehalten, es wird nachgedacht, es wird gelacht. Das geht täglich so, bis zum Abend. Für die Zeit einer Partie wird selbst eine grell beleuchtete Bahnhofshalle zum Wohnzimmer.

Bild, von Der Schachmann

Vielleicht haben Sie schon ewig nicht mehr Schach gespielt, aber darum geht es hier am allerwenigsten. Nehmen Sie sich jetzt eine Stunde Zeit, es wäre ein großes kleines Geschenk zur rechten Zeit.