Anfang März 2010 stellte Jenö A. Molnár sein Buch „Wir waren doch nur Kinder“ im Parlament vor. 16 Jahre lang lebte er in Kinderheimen. Lieblosigkeit, Gewalt und Sadismus prägten sein Aufwachsen. Kurz darauf erhoben ehemalige „Heimkinder“ gegen den Leiter des August-Aichhorn-Hauses schwere Vorwürfe: Dieser habe die Kinder zu Putz- und Sexdiensten missbraucht. (Anmerkung: Die Anklage gegen den Heimleiter wurde fallengelassen.) Ausgerechnet in dem Haus, das den Namen eines Lehrers und Jugendheimleiters trägt, der sich als einiger der Wenigen in der Zwischenkriegszeit für eine gewaltlose Erziehung eingesetzt hatte.
Kurz nach der Publikation 2010 melden sich unzählige „Heimkinder“, die in privaten, kommunalen, konfessionellen und staatlichen Erziehungsheimen verprügelt, sexuell missbraucht und ausgebeutet worden waren.
Es folgen parlamentarische Anfragen, Medienberichterstattungen und eine öffentliche Diskussion. Im Herbst 2010 erteilt die Stadt Wien dem Sozialhistoriker Reinhard Sieder den Auftrag, die Lebenssituationen der Kinder in städtischen Erziehungsheimen, insbesondere das Leid von Kindern an verschiedenen Formen der Gewalt in Erziehungsheimen, zu untersuchen. Im April 2012 legt Reinhard Sieder dem Wiener Gemeinderat und der Öffentlichkeit einen 533 Seiten starken Bericht vor, der noch im selben Jahr als Buch erscheint: Reinhard Sieder/Andrea Smioski, Der Kindheit beraubt. Gewalt in den Erziehungsheimen der Stadt Wien.
Aus dem Bericht geht klar hervor, dass in den 1950er bis in 1970er Jahre in vielen Erziehungsheimen strukturelle, soziale, materiell-ökonomische, körperliche, psychische, sexualisierte und sexuelle Gewalt herrschte. Sieder sprach von einer „historischen Katastrophe von unglaublichen Ausmaßen.“
Deren Ursprünge und Anfänge liegen weiter zurück.
"Kinder des Staates"
Neben den verantwortlichen Politikern in der späten Monarchie, in der Ersten Republik, im „christlichen“ Ständestaat, im „Dritten Reich“ und in der Zweiten Republik waren immer auch Wissenschaften, vor allem die psychiatrische Disziplin der Heilpädagogik und die Wiener Entwicklungspsychologie an der Diskussion um die Unterbringung von Kindern beteiligt. Sie machten erst möglich, von „gefährlichen“, „asozialen“ und „minderwertigen“ Kindern zu sprechen. Dieser Gewalt des Denkens, die aller tätlichen Gewalt von Erziehern vorausgeht, ist der neue Band gewidmet: „Die Kinder des Staates“, herausgeben vom Historiker Reinhard Sieder und von der Innsbrucker Bildungswissenschafterin Michaela Ralser.
Experimente
Historiker, Soziologen und Erziehungswissenschafter untersuchen in ihren Beiträgen, mit welchen Argumenten Politik und Wissenschaft vor allem ledige Mütter und deren Kinder aus der „Unterschicht“ unter Generalverdacht stellten. Sie finden die Gründe in der Psychiatrisierung der Kindheit um 1900, in der damals begonnenen Zusammenarbeit von Psychiatrie und Pädagogik und in der alle Wissenschaften wie auch die Sozial- und Kommunalpolitik anleitende Ideologie der Rassenhygiene. Psychiater, Lehrer, Psychologen, Fürsorgerinnen stuften Kinder – vor allem Kinder aus den städtischen „Unterschichten“ – als „gefährdet“, „gefährlich“ und „minderwertig“ ein. Medizin, Psychologie und Pädagogik entwarfen Kategorien, entwickelten Tests und legten fest, wer „krank“ und wer „gesund“ ist, was „wertvolles“ und was „minderwertiges“ Leben sei, wo sich Erziehung noch lohne und wo nur noch Einsperrung oder gar Tötung („Kindereuthanasie“) angebracht sei.
In der städtischen „Nervenklinik“ Am Spiegelgrund wurden „minderwertige Kinder“, die angeblich an „Idiotie“ litten oder an Kinderlähmung erkrankt waren sowie aus anderen Gründen zu medizinischen Tuberkulose-Experimenten missbraucht. Viele wurden mit dem Beruhigungsmittel Luminal getötet oder starben als Folge der Experimente an "Lungenentzündung". Es gibt 789 dokumentierte Todesopfer.
"Schuldig"
Nach 1945 arbeiteten viele im „Dritten Reich“ führende Psychiater und andere Mediziner unter neuen Begriffen wie „Menschliche Erblehre“ und „Humangenetik“ in führender Stellung weiter. Auch die rassistische Ideologie bestand weiter fort, auch in der Praxis der psychiatrischen Gutachter. Nach wie vor wurden von ihnen besonders dunkle Augen, Kieferfehlstellungen, ein Spalt in der oberen Reihe der Schneidezähne oder feuchte Hand- und Fußflächen als Hinweise auf „Minderwert“ und auf „charakterliche Mängel“ interpretiert. Diese Gutachten erfolgten im Auftrag des Wiener Jugendamtes und legitimierten die Einweisung von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheime.
Mindestens bis in die 1970er-Jahre wurde von vielen Erziehern und auch in Teilen der Bevölkerung angenommen, dass Kinder aus „minderwertigen“ Verhältnissen „schuldig“ seien. Schuldig, weil ihre Eltern nichts taugten und sich deren Schuld auf die Kinder vererbe, oder weil sich die Kinder auch selber schuldig gemacht hätten: durch Misserfolge in der Schule, durch kleine Eigentumsdelikte in der Armutskultur, durch Raufhändel oder durch den Versuch, aus einem Erziehungsheim zu flüchten. Die schlecht ausgebildeten Erzieher glaubten, dass Heimkinder dafür regelmäßig bestraft gehören und ihnen körperliche und seelische Schmerzen zugefügt werden müssten. Die wissenschaftliche Rede vom „Minderwert“ setzte sich in der Missachtung und Herabwürdigung der Kinder durch viele Erzieher fort.
Pflegekinder
In einigen Beiträgen werden ältere und jüngere Formen der Kindesunterbringung abseits der leiblichen Eltern untersucht: Waisenhäuser im 16. und 17. Jahrhundert, das Wiener Findelhaus (es bestand bis 1910) sowie ein System der Pflegefamilien im 20. Jahrhundert. Im Wiener Findelhaus starben bis zu 97 Prozent der Säuglinge, im Waisenhaus mussten Kinder durch Arbeit oder Betteln den Unterhalt des Hauses mitfinanzieren. In Spitälern und Nervenkliniken wurden sie für bakteriologische Experimente missbraucht. Die Überstellung von Wiener Kindern in Pflegefamilien wurde zu einer Einnahmequelle der Pflegeeltern. In den 1950er Jahren wurden bis zu zehn Wiener Pflegekinder gleichzeitig an „Großpflegefamilien“ in den Grenzbezirken Radkersburg und Jennersdorf überstellt.
Nach der in den 1970er Jahren erstmals formulierten Kritik an den Erziehungsheimen wurde diese Art der Unterbringung sogar noch forciert. Die verheerenden Zustände in vielen Pflegefamilien wurden nicht diskutiert. Körperliche und sexuelle Gewalt wurden vertuscht und blieben meist ungeahndet. Die zuständigen Fürsorgerinnen, die die Pflegefamilien auf dem Land besuchten, deckten "nur" offensichtliche schwere Pflegemängel auf. Sie wussten zwar, dass viele Pflegeeltern nur am Pflegegeld interessiert waren, aber das Ausmaß der körperlichen und sexuellen Gewalt blieb ihnen mangels geeigneter Nachforschung verborgen.
„Die Kinder des Staates“ ist ein sehr intensives Buch, das vor allem die wissenschaftlichen Hintergründe des Systems der staatlichen Kindererziehung und seiner Gewalthaftigkeit ausleuchtet. Es gibt einen erschreckenden Einblick in die Verstaatlichung der Erziehung von Kindern mit ideologischen Argumenten und mit dem Wissen der beteiligten medizinischen, psychologischen und pädagogischen Wissenschaften.
Reinhard Sieder, Michaela Ralser (Hrsg.) Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1 & 2/2014: Die Kinder des Staates/Children of the State, erschienen im Studienverlag, 376 Seiten, ISBN: 978-3-7065-5334-6, 34,90 Euro.
Jenö Alpár Molnár, Wir waren doch nur Kinder
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