Zahlreiche Gedanken schießen mir durch den Kopf. Was koche ich, wenn ich heute Zuhause bin? Starrt mich jemand komisch an? Soll ich morgen meinen Steuerausgleich machen? Ich reibe meine eiskalten Hände aneinander und versuche, mich nur aufs Atmen zu konzentrieren. Ganz bei mir zu sein. Achtsam zu sein. Das fordert auch eine freundliche Frauenstimme: „Achten Sie auf den Spalt zwischen Bahnsteig und U-Bahn-Türe.“
Ich sitze während der Rush Hour am Donnerstag Abend zusammen mit acht mir vor ein paar Minuten noch völlig unbekannten Menschen und geschlossenen Augen in der U6 und versuche, bewusst aus- und einzuatmen. Von Siebenhirten bis zur Endstation Floridsdorf sind es 24 Stationen, die Fahrzeit dauert in etwa 35 Minuten. Komischerweise denke ich bei der besonders hektischen Haltestelle Westbahnhof das erste mal nicht mehr an meinen Steuerausgleich, weil die Eindrücke von außen immer intensiver werden.
Die U-Bahn rüttelt mehr als sonst, die Einfahrten in die Stationen fühlen sich an wie eine Vollbremsung. Wenn die Türen aufgehen, herrscht ein Gewirr, als säße ich mitten in einem Bienenschwarm. Stimmen im Hintergrund. Deutsche Dialoge sind noch schwieriger auszublenden als die in fremden Sprachen. Die Gedanken an meine kalten Hände verschwinden.
Noch nie zuvor nahm ich das Geschehen in einem öffentlichen Verkehrsmittel so intensiv war. Als der Zug in Floridsdorf ankommt, fühle ich mich wie in Watte gepackt. Es ist ungewohnt, aber angenehm.
Gerade die Hektik in den Öffis macht sie für Meditation interessant
Der Wiener Shaohui He organisiert seit 2012 einmal im Monat im Rahmen seines Projektes I Meditate Vienna eine Gemeinschaftsmeditation in U-Bahnen. Der 37-jährige Fotograf entwickelte die Idee im Zuge eines Lehrgangs der Pioneers of Change. „In dem Seminar ging es um Persönlichkeitsentwicklung. Mein Thema war, Achtsamkeit in den Alltag zu bringen. Durch Brainstorming ist mir dann die Idee gekommen, in der Gruppe in U-Bahnen zu meditieren. “ Gerade die Hektik, die in den öffentlichen Verkehrsmitteln vorherrscht, machte diesen Ort für den jungen Mann interessant. „In dieser schnelllebigen Zeit verliert man sich sehr schnell,“ sagt er. Eben wegen der Ablenkung, die es überall gebe, solle man „geistigen Müll“ mit ein paar bewussten Atemzügen hinter sich lassen. „Man kann die Zeit in der U-Bahn sinnvoll nutzen, indem man kurz inne hält.“
Shaohui He verbreitete die Idee zunächst über sein Netzwerk, doch schon bald stießen Menschen zu den Meditationsfahrten, die er zuvor nicht gekannt hat. „Einmal waren wir 55 Leute in der U4. Ein Waggon hat aber nur 49 Sitzplätze, es war randvoll.“ Die Umwelt reagiert unterschiedlich auf die Meditations-Flashmobs. „Manchmal bemerken die Menschen die Ruhe, die von uns aus geht und flüstern nur noch. Ein paar haben spontan mitgemacht. Wir lassen für solche Leute immer ein paar Plätze frei. Letztens wollten uns Jugendliche provozieren, indem sie besonders laut geredet haben. Ich nahm es kurz wahr und bin dann wieder zu mir und meinem Atem zurückgekehrt.“ Mit einer Religion habe das ganze nichts zu tun. „Meditieren kann man frei von jeglicher spirituellen Schule. Man muss auch keinerlei Vorkenntnisse mitbringen.“
Bewusstes Fotografieren
Mittlerweile kombiniert Shaohui He seinen Beruf und die Achtsamkeitslehre als Vortragender in einem Workshop. „Jeder, der fotografieren gelernt hat, hat seine fixen Vorstellungen, was ein gutes oder ein schlechtes Bild ist. Ich versuche, den Teilnehmern bewussteres Fotografieren beizubringen.“
Shaohui He und andere Teilnehmer von I Meditate Vienna meditieren auch immer wieder alleine, wenn sie mit den Öffis fahren. So weit bin ich wohl noch nicht. In der Gruppe fühle ich mich sicherer, da macht es mir weniger aus, falls mich fremde Menschen anstarren. Und noch mache ich mir zu viele Gedanken, dass ich vor lauter Achtsamkeit vergesse, bei der richtigen Station auszusteigen. Ich nehme mir vor, daran zu arbeiten.
Termine und Newsletter: imeditatevienna.wordpress.com
Für „Späteinsteiger“: Die Meditation findet immer im letzten Waggon statt.