Ist ja kein sehr wahrscheinliches Ereignis. Vor allem, weil Barcelona das Hinspiel in Paris 0:4 verloren hatte. Anlässlich dieses Traums wollte ich sofort meinen ehemaligen Kollegen Michael Hufnagl anrufen, weil er der wohl glühendste Barcelona-Fan Österreichs ist. Und weil er einst mit mir in der Sportredaktion des Kurier gesessen war. Doch schon beim Frühstückskaffee hatte ich mein Vorhaben, ihn anzurufen, schon wieder vergessen.
Trotzdem holte mich der 5:0-Traum mehrmals an diesem Tag ein. Ungewöhnlich, denn ich war ja der Meinung, dass ich im Fußball sowieso schon alles erlebt hatte, weshalb mein Interesse ein bisserl rückläufig gewesen ist in den letzten paar Jahren. Mit fast 60 darf ich mir das erlauben, weil ich eh zu viele Nächte in der Redaktion verbracht habe in meinem Leben, während meine Kinder unbemerkt erwachsen wurden. Oder ich hab mir irgendwo in einem Stadion den Arsch festgefroren, um in der 93 Minute einen Matchbericht, der schon nach einer Stunde fertig gewesen war, wegen irgendeines Eigentors und eines geschenkten Elfmeters komplett neu schreiben zu dürfen.
Und am nächsten Tag hab ich mir dann die militante Raunzerei von irgendeinem Leser anhören müssen, der einen Beistrichfehler oder einen Das(s)-Fehler entdeckt hatte:
„Ja natürlich haben Sie Recht, aber ich hatte einfach nur mehr drei Minuten Zeit zwischen Schlusspfiff und Redaktionsschluss und…“
„Nix ,und‘! Ich hab‘ für den Kurier gezahlt und ich hab‘ ein Recht darauf, dass sie ordentlich Deutsch können.“
„Ja, aber…“
„Nix ,aber‘! Habts ihr keine Korrektoren mehr?“
“Nein, die gibt es schon lang nicht mehr...“
„Des ist mir wurscht! Weil ich muss hart arbeiten, um mir ihre Zeitung leisten zu können!“
„Tut mir unendlich leid; es wird nie wieder vorkommen; bleiben Sie uns als Leser bitte trotzdem gewogen…“
Tüt, tüt, tüt – er hat aufgelegt.
Heute tut es mir leid um die vielen Götzzitate, die ich mir damals alle verkniffen habe.
Einmal – ein einziges Mal – machte es mir so richtig Spaß, einen Matchbericht neu schreiben zu dürfen: Champions League Finale am 26. Mai 1999 – ausgerechnet in Barcelona. Bayern München führte gegen Manchester United mit 1:0. Ein gewisser Basler hatte in der 6. Minute den damals weltbesten Tormann Peter Schmeichel per Freistoß bezwungen.
Das Spiel war von da an eher langweilig, weshalb ich länger als sonst brauchte mit meinem Bericht. Aber nach genau 91 Minuten war ich dann endlich so weit: „Burschen, meine Geschichte ist durch“, sagte ich am Telefon. Antwort hörte ich keine mehr, denn ein gewisser Sheringham schoss genau in diesem Augenblick das Ausgleichstor zum 1:1.
Nächstes Telefonat: „Bericht! Kommt! Neu!“, brüllte ich. „Aber jetzt haben wir ja Zeit, weil das Match in die Verlängerung geht.“ Keine Ahnung, ob mich am anderen Ende der Leitung jemand verstehen konnte.
Doch das Finale ging nicht in die Verlängerung, mit der in diesen Augenblicken jeder gerechnet hatte. Ein Norweger namens Ole Gunnar Solskjær erzielte in der 93. Minute das 2:1 für Manchester United. Ich saß im deutschen Sektor der Pressetribüne, sah Laptops und Sesseln fliegen, bekam einen Kuli an den Kopf, nahm die Gefühlsausbrüche der englischen Fans als Sturmbö wahr und wurde von meinem Kollegen Lutz Lischka aus Wien informiert, dass wir die Niederösterreich-Ausgabe jetzt wohl verpassen würden.
Das hieß damals konkret: Weil wir durch diese dramatische Wendung den Redaktionsschluss verpasst hatten, würden Zeitungskäufer in Niederösterreich – also auch die meisten meiner Freunde – kein Wort von all dem lesen, was hier gerade passiert war. Es sei denn, es würde mir gelingen, innerhalb von zehn Minuten einen neuen Matchbericht zu verfassen.
CONTROL DELETE lautete auf den damals aktuellen Laptops die Tastenkombination, mit der man alles bisher Geschriebene auslöschen konnte. Was ich auch tat. Ich habe weder vorher noch nachher jemals 130 Zeilen – also etwa 3500 Schreibmaschinenanschläge – in derart affenartiger Geschwindigkeit runtergeklopft!
Und dann – fast 18 Jahre später – gewinnt Barcelona gegen Paris Saint-Germain 6:1 und vollbringt genau eines jener Fußball-Wunder, die diesen Sport so einzigartig machen. Ganz kurz zum Spielverlauf: Barcelona führte nach 50 Minuten 3:0, hätte also nur noch ein Tor gebraucht, um den 4:0-Heimsieg der Franzosen zu egalisieren. Doch das Tor erzielte in der 62. Minute Cavani für die Franzosen. Von diesem Moment an waren für Barcelona also noch einmal drei Tore notwendig, um doch noch den Aufstieg zu schaffen. Aus dem 3:1 musste also innerhalb von 28 Minuten ein 6:1 werden. 25 Minuten lang fiel aber kein weiteres Tor. Dann ging es dafür Schlag auf Schlag – 88. Minute 4:1. Zu Beginn der Nachspielzeit fiel das 5:1, das wegen der Auswärtstorregel noch immer nicht reichte. In der 95. Minute fiel das 6:1 – Barcelona erreichte somit doch noch das Viertelfinale der Champions League.
Ich versetzte mich für ein paar Minuten in die Situation meiner ehemaligen Kollegen. Ob sie wohl auch heute noch derart blödsinnige Redaktionsschlusszeiten haben? Ob wieder einer „Bericht! Kommt! Neu!“ ins Telefon gebrüllt hat? Ob ihnen auch heute noch am nächsten Tag von penetranten Lesern der letzte Nerv gezogen wird?
Jedenfalls hab‘ ich den Hufnagl mit meinem albernen 5:0-Traum nicht belästigt. Ein Glück, denn das Match ist ja nicht 5:0, sondern 6:1 ausgegangen. Und er hätte wahrscheinlich gesagt: „Du hast noch immer keine Ahnung von Fußball, du Traumtänzer!“