Marliese Mendel
Initiative

Ablenkmanöver für Kartoffelkäfer

Mittwoch, 9. April 2014
Nikolai Ritter hat es eilig. Gewitterwolken ziehen auf, und hunderte Kohlrabi-, Karfiol- und Salatpflänzchen sollen noch auf dem Gemeinschaftsfeld in der Lobau ausgesetzt werden. Seit drei Jahren bebauen und ernten Freizeitlandwirte Gemüse auf einem 4000 m² großen Feld am Stadtrand Wiens.

Nikolai Ritter ist eigentlich Filmarchitekt in der „heilen" Welt Wiens. Aber eine einmonatige Reise, in den damals noch ungeteilten Sudan, veränderte seine Sicht auf die Welt. Er sah die Welt von der anderen Seite: 25 Jahre Bürgerkrieg hatten ein vermintes Land, Kriegsversehrte, Kindersoldaten, Malariakranke, bittere Armut hinterlassen. Trotzdem waren die Menschen fröhlich und von großer Herzlichkeit. Nach der Rückkehr von seiner Reise dachte er darüber nach seinen Beruf aufzugeben und Entwicklungshelfer zu werden. Doch dann wurde ihm klar, dass Afrika mehr geholfen ist, wenn er lernt in der westlichen Welt nicht auf Kosten ärmerer Länder zu leben.

Er schloss sich einer Gruppe von Studenten an, die eine der ersten Wiener FoodCoops gründeten. Aus der FoodCoop entstand die Idee des Grätzllabors. Menschen, die Lust haben eine Initiative zu starten, finden innerhalb des Grätzllabors einen Raum, um ihre Ideen direkt und sofort auszuprobieren. Insgesamt bildeten sich 14 Teams, von Gruppen die Güter gemeinsam brauchen, über jene, die einfache Windräder bauen bis hin zu den „LoBauerInnen“, die zusammen im 22. Wiener Gemeindebezirk gemeinsam landwirtschaften.

Keine Chemie

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Marliese Mendel
Gemeinschaftsgartlerinnen

„53 LoBauerInnen betreiben ohne professionelle Hilfe selbst organisiert und verantwortlich Landwirtschaft“, sagt Ritter und steckt die Hand in einen der vielen Komposthaufen um die Wärme darin zu prüfen. „Die Vereinsmitglieder kommen aus allen Bevölkerungsgruppen. Elektriker die jede freie Minute am Feld verbringen, Boku-Studenten die Praxis sammeln und Familien, die sich mit frischen Gemüse versorgen wollen“, sagt Ritter. Die LoBauerInnen erstellen eine Liste, welche Gemüsesorten auf den 78 Parzellen a 30 m² angepflanzt werden sollen. „Wir pflanzen alles gemeinsam was wir essen wollen: diverse Kohlsorten, Mangold, Physalis, Topinambur, Wurzelgemüse für den Winter, 10 bis 15 verschiedene auch alte Kartoffelsorten, u.v.m.,“ sagt Ritter.

Angebaut wird in Mischkultur und sie setzen keinen Pflug ein. „Wir sind noch radikaler als manch biozertifizierten Bauern“, sagt Ritter, „Wir betreiben Kreislaufwirtschaft, verwenden nur selbstgemachten Kompost und den Pferdemist der Nachbarin.“ Auf die Beete kommt keine Chemie. Als Zusätze werden nur effektive Mikroorganismen, Steinmehl und Dinge aus eigener Produktion verwendet.

Auch sogenannte Schädlinge sind auf dem Feld willkommen. „Wenn man verschiedenen Sorten in Mischkulturen anpflanzt, dann attackieren Insekten oder Schädlinge immer nur die Pflanzen, die ihnen am meisten taugen. Es kommt zu Ausfällen, aber die planen wir mit ein. Die Braunfäule erwischt schon einmal die Paradeiser. Krankheiten sind nichts, was man vermeiden soll. Auch der Mensch ist krank und muss eine Pause machen. Ein 6tel der Produktion ist nicht für die Gemüseproduktion, sondern für natürliche Kreisläufe – irgendwer ernährt sich mit und kackt dafür wieder ins Feld. Wir wollen diese Kreisläufe haben und akzeptieren so auch Krankheiten und sogenannte Schädlinge.“

Gedeckter Tisch

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Marliese Mendel
Gemeinsames Mittagessen

Die LoBauerInnen pflanzen, wie in in der Biolandwirtschaft üblich, zwischen Kartoffeln andere Gemüsesorten oder Blumen an. Durch die Mischkultur greift etwa der Kartoffelkäfer die Pflanzen nicht so sehr an. „Es ist wie bei einem gedeckten Tisch: es wir auch noch was anderes angeboten. Dadurch macht man eine Art Ablenkmanöver,“ sagt Ritter lachend.

Rund 20 Vereinsmitglieder experimentieren auf ihren eigenen Parzellen. Sie bauen zum Beispiel nur Färbepflanzen an, oder machen Versuche mit verschiedenen Anbautechniken. Etwa einem Kraterbeet: in die Mitte eines Hügels werden Kompost, Küchenabfälle und Unkraut gefüllt und diese füttert von innen heraus die jungen Pflanzen. So hat man anfangs mehr Arbeit, aber letztendlich viel mehr Anbaufläche. Das Projekt soll herausfinden, ob sich der Aufwand lohnt.

Immerhin könnten sich 50 Menschen von den selbst gezogenen Feldfrüchten voll ernähren. Jedes Vereinsmitglied kann Arbeit gegen Gemüse eintauschen. Einen Teil der Ernte verkaufen die LoBauerInnen an den Chefkoch Johann Reisinger ab. Der wird auch heuer im Sommer wieder die Besucher des Kino unter Sternen im Augarten mit regionaler und saisonaler Gesundheitsküche bekochen.

Gemüseglocke

Facts und Links

Jeder kann mitmachen: Mitgliedsbeitrag kostet 100 Euro pro Jahr, Ermäßigungen für Studenten, Geringverdiener und Familien.

In etwa zwei Wochen soll die Gemüseglocke am Feldrand angebracht werden. Veggiefreunde können sich dann am Mittwoch und Sonntag (von 10.00 bis 16.00 Uhr) ihre Melanzani, Kürbis und Kopfsalat direkt vom Feld holen lassen, dabei über biologische Landwirtschaft lernen und sich passenden Kräuter einpacken lassen. Es gibt keine festgelegten Preise, sondern am Ende der Erntetour über das Feld und die beiden Gewächshäuser steht ein Spendenglas.

In einem der Gewächshäuser haben die LoBauerInnen schon einen Nachbarn: ein Fischprojekt. In Tanks werden pflanzenfressende Fische (Tilapia) gezüchtet. Das Wasser wird zum Düngen verwendet. „Es ist viel effizienter als Kuh- oder Eselmist, denn die Fischexkremente werden im Wasser gelöst und daher schneller von den Pflanzen aufgenommen“, sagt Ritter. Das sieht man auch. Der Asiasalat ist bereits geerntet und die Radieschen sind schon tief rot. Zweimal wöchentlich verkochen die LoBauerInnen ihr selbstgezogenes Gemüse für das gemeinsame vegetarische/vegane Mittagessen. Heute trinken sie auch in der FoodCoop selbstgebrautes Bier. Bis ein Gewitter aufzieht. Die LoBauerInnen wollen den kommenden Regenguss nützen und machen sich auf, um die Kohlrabi-, Karfiol- und Salatpflanzen einzusetzen.

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