„Ich schaue so lange, bis ich ein Bild bekomme ,“ sagt Angela Dorrer, während sie sich über meine Hand beugt, die unter ihrer großen Lupenlampe liegt. Die nächsten Minuten schweigen wir, denn die Künstlerin muss sich konzentrieren. Im Hintergrund surrt nur der Ventilator.
Dorrer nimmt die Reliefs von Händen als Ausgangspunkt für das Bild einer Landschaft, sogenannte Handscapes. Die Idee dazu entwickelte sie vor einigen Jahren während eines Aufenthalts in Montreal. „Auf der einen Seite haben mich Karten schon immer fasziniert, auf der anderen Seite Body Art und die Malerei.“ Sie taucht ihren dünnen Pinsel zuerst in ein Wasserglas und tunkt ihn dann in eine Aquarellfarbe. „Ich mache das intuitiv, in der Tradition des Actionpainting. Jedes Handrelief ist völlig anders beschaffen, was die Struktur betrifft, die Tiefe der Linien, deren Geflecht, die Farbe oder Festigkeit der Haut.“
Sehnsucht nach schönen Bildern
In ihrem kleinen Atelier in der Brigittenau hängen Dorrers Bilder an den Wänden. Fotografien von bemalten Händen – auch mal im Vordergrund einer realen Landschaft. Oder mehrere Handflächen ineinander verschränkt, beispielsweise Hände von Liebespaaren. Die meisten Bilder sind in unterschiedlicher und intensiver Farbigkeit gehalten, ein paar sind auch schwarz/weiß.. „Manchmal fotografiere ich eine Hand nackt, bringe sie mit anderen Händen in Verbindung und montiere sie zu großflächigeren Landschaften zusammen.“ Dahinter stecke ihre Sehnsucht nach schönen Bildern. „Es ist für mich eine Versenkung in das, was in einer Hand los ist.“ Die 45-jährige hat auf Reisen immer ein kleines Mal-Equipment dabei. „Wenn ich Lust habe, packe ich es aus und benutze die Haut anderer als Leinwand.“ Von Zeit zu Zeit wird sie für Events als Performance-Künstlerin gebucht. Dort sitzt sie dann etwas abseits und tut das, was sie eben gerne tut: Sie malt Gästen Landschaften in ihre Handflächen.
„In Wien ist das Tor zur Unterwelt“
Ein zweites Steckenpferd von Dorrer ist die Beschäftigung mit dem urbanen Umfeld und den Charaktereigenschaften von Städten in ihren Urban Pilgrims Tours. „Vor ein paar Jahren habe ich über Wien Onlinerecherchen gemacht. Ich stellte Stadtbewohnern Fragen wie zum Beispiel: ‚Wonach riecht Wien? Oder, wenn Wien eine Person wäre, was wäre es für ein Mensch?‘ ‘ Solche Fragen habe ich in unterschiedlichen Städten gestellt. Anschließend habe ich die signifikantesten Orte heraus gegriffen und dazu performative Führungen mit Handlungsanweisungen gemacht.“ Auf Anfrage macht sie verschiedene Führungen in Wien.
„Das signifikanteste Thema in Wien sei Unterwelt versus Oberwelt. Diese Erkenntnis hat sie schon mehrmals ins unterirdische Kanalsystem geführt. Denn in der österreichischen Hauptstadt, man höre und staune, soll sich laut mehrerer Legenden das Tor zu Unterwelt befinden. Eine davon besagt, es sei am Donaukanal bei der Urania. „In Wien sollen sehr intensive gewisse Ost- und Westströmungen zusammen kommen. Diese laufen eine Weile parallel und stürzen dann bei der Urania ins Erdinnere, was eine ganz besondere Energie an dem Ort erzeugt. Ich mag solche Geschichten.
Der Zuckerguss und das Abgründige
Auf der einen Seite sei da der Zuckerguss, auf der anderen ein Kippen ins Abgründige, das alles ist für Dorrer etwas typisch Wienerisches. „Da ist die Welt von Mozart, Lipizzaner und Rokoko. Und dann das Zwielichtige, das so typisch für die Nachkriegszeit war. Und die Assoziation mit Freud und der Psychoanalyse.“ Plötzlich sagt sie ganz lapidar: „Die Hundekot-Diskussion finde ich auch sehr interessant. Die hat so was Revier-Markierendes.“ Sie hat schon in vielen Städten gelebt, aber nur in Wien sei das überhaupt ein Thema. Sie lacht. „Aber wenn man länger hier lebt, fällt einem das gar nicht mehr auf.“
Dann schweigt sie wieder minutenlang und malt konzentriert in meine Handfläche. Sie lässt mich erst los, als sie fertig ist. „Gefällt es dir?“ Ich nicke. Dorrer holt ihre Kamera und und dokumentiert ihr kleines Kunstwerk fotografisch. Denn schon nach dem ersten Händewaschen wird das Original in den unterirdischen Wiener Kanal geschwemmt werden.
Die nachbearbeiteten Fotografien der Handbilder können käuflich in Form von Büttendrucken oder Postkarten erworben werden. Auf Wunsch schreibt Angela Dorrer auch Reiselogbücher zu den gemalten Landschaften, die in Beratung mit Kartografen entstanden.