Dieser Artikel ist ursprünglich im Amnesty Journal erschienen. Wir danken Amnesty International für die freundliche Abdruckgenehmigung.
Eigentlich wollte Siroos Mirzaei nie Arzt werden. Und auch die Entscheidung, seine Heimatstadt Mashhad im Nordosten des Iran zu verlassen und ins entfernte Österreich zu ziehen, traf sein Vater für ihn. Knapp 18 Jahre war Siroos damals alt, die Matura in der Tasche und Pläne für ein Technikstudium im Kopf. Doch da war auch noch sein politisches Engagement für die Opposition. Zu gefährlich im Iran kurz nach der Revolution, entschied der Vater und schickte ihn mit dem Auftrag, Medizin zu studieren, zum einzigen Verwandten, den die Familie außerhalb Persiens hatte: einem Cousin zweiten Grades in Wien.
Heute, über 30 Jahre später, leitet Mirzaei die nuklearmedizinische Abteilung des
Wilhelminenspitals. Er beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Frage, wie man Folter auch dann nachweisen kann, wenn die äußerlichen Spuren längst verschwunden sind: „Schwere Misshandlungen brennen sich im Körper ein“, erklärt der Mediziner: Brutale Schläge, etwa auf die Fußsohlen („Falanga“), führen zu Schädigungen der Knochenstruktur (Läsionen), die man mittels Strahlen- oder Magnetresonanz-Analysen noch Monate bis viele Jahre danach feststellen kann. „In der Türkei etwa ist Falanga dadurch deutlich zurückgegangen“, weiß der Österreicher mit iranischen Wurzeln. Die „Palestinian Hanging“ genannte Methode, Menschen an ihren hinten zusammengebundenen Armen nach oben zu ziehen, führt zu spezifischen Veränderungen im Bereich des Schultergürtels. Dänischen Forschern wiederum gelangen Erfolge beim Nachweis von Hautveränderungen an jenen Stellen, wo früher Elektroden angebracht worden waren.
Auch im Gehirn machen sich Misshandlungen langfristig bemerkbar, etwa in Störungen des Stoffwechsels. Zahlreiche Studien, vor allem mit US-Kriegsveteranen, haben das eindeutig bewiesen. Wie gut die Folterspuren zu erkennen seien, hänge von Art und Intensität der Misshandlungen sowie dem körperlichen Zustand des Opfers ab, so Mirzaei. Neben dem Nachweis von Folter werden nuklearmedizinische Untersuchungen auch beim Verdacht auf Kindesmisshandlung eingesetzt.
Während einige Foltermethoden aufgrund der besseren Beweisbarkeit zurückgehen, folgen andere nach. So sei etwa das heute weltweit verbreitete „Waterboarding“ (Simulieren des Ertrinkens) später medizinisch-analytisch ebenso wenig nachweisbar wie stundenlanges „Stehenlassen“. Allerdings: „Einen physikalischen Beweis braucht es im Einzelfall meist auch nicht. Eine professionelle, empathische Geschichtserhebung reicht in 90 Prozent der Fälle völlig aus um zu wissen, ob gefoltert wurde. Der Großteil der Opfer entwickelt auch eine posttraumatische Belastungsstörung“, so der Arzt.
Vor diesem Hintergrund ist Mirzaei auch wichtig zu betonen, dass er seine Arbeit nicht als „besseren Lügendetektor“ (miss-)verstanden wissen will: „In Einzelfällen wollen Betroffene selbst beweisen, was ihnen passiert ist, manchmal finden Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Asylverfahren statt. Generell wollen wir aber zeigen, was tagtäglich auf der Welt passiert, und zwar hier und heute.“ In diesem Sinne seien, so der Mediziner, die wissenschaftliche Dokumentation und der wissenschaftliche Nachweis wichtige Puzzlesteine im weltweiten Kampf gegen Folter.
National und international gut vernetzt
Seit vielen Jahren ist Mirzaei in seinem Engagement national wie international gut vernetzt: Schon Anfang der 1990er Jahre trat er der MedizinerInnengruppe von Amnesty International Österreich bei und gründete später mit anderen KollegInnen den Verein Hemayat zur medizinisch-psychologischen Unterstützung von Folter- und Kriegsüberlebenden in Wien. Seit einigen Jahren arbeitet der 52-Jährige hier auch eng mit iranischen ÄrztInnen zusammen, die sich für Menschenrechte im Iran engagieren.
Vor zwei Jahren baten Mirzaei Menschenrechtsbeauftragte des iranischen Regimes, ihnen die Beweise für Folterungen vorzulegen. Treffpunkt war das Wiener AI-Büro. Als die offiziellen Vertreter gewisse Fälle nicht leugnen konnten, versuchten sie, diese zu rechtfertigen. Im Sommer letzten Jahres präsentierte Mirzaei der Öffentlichkeit im Rahmen einer AI-Pressekonferenz den Fall eines Iraners, der die Folter nicht überlebt hatte.
Hinter all dem steht auch die Hoffnung, dass die Politik auf die dokumentierten Fälle reagiert: „International wird schon sehr viel getan gegen Folter, aber Nachholbedarf sehe ich beispielsweise bei der Strafgerichtsbarkeit. Und Vereine wie Hemayat sollten nicht jedes Jahr um ihr Bestehen fürchten müssen. Ich persönlich wäre auch für ein Einreiseverbot für Politiker aus Folterländern. Denn Embargos treffen vor allem die Armen.“
Insgesamt suchen jedes Monat über 1000 PatientInnen die nuklearmedizinische Ambulanz des Wilhelminenspitals auf, etwa mit Verdacht auf Krebs. Bei drei bis fünf Personen geht es um Folter. Doch wie grenzt sich ein Arzt ab, der täglich so viel Leid sieht? „Natürlich ist man betroffen, wenn man einem Patienten beispielsweise etwas Schlimmes sagen muss. Man muss aber lernen, nicht Teil der Geschichte, sondern Begleiter zu sein“, sagt Mirzaei, ohne zu überlegen: „Außerdem gibt es immer positive und negative Erlebnisse. Die Energie zieht man aus den Therapieerfolgen.“
In seinem Privatleben tankt der mit einer Französin verheiratete Vater zweier erwachsener Kinder beispielsweise beim wöchentlichen Laufen mit Freunden in seiner Wahlheimat Perchtoldsdorf auf. Angestiftet von einem Freund hat es der Arzt sogar schon bis zum (Wachau-) Marathon gebracht. Und so ganz „nebenbei“ hat Mirzaei auch noch einen Roman verfasst: „Irdische Träume im Paradies“ (2011) handelt von einer gesteinigten Frau, die sich im Paradies an ihre Zeit auf der Erde erinnert. Auch dabei ging es dem Austroiraner vor allem darum, eines zu zeigen: Dass immer wieder passiert, was einfach nicht passieren darf.