Am Sonntag, dem 25. November 1945 war es kalt und es nieselte. Trotz des Schlechtwetters wären an diesem Tag viele Menschen losgezogen, um ihre Nachkriegsnot etwas zu mildern, um in den Wälder Holz zu klauben oder aufs Land zu fahren, um zu Hamstern. So manche/r wäre aber auch ins Gasthaus auf ein Glaserl eingekehrt – das ging jedoch nicht: Es bestand absolutes Alkoholverbot.
An diesem Sonntag gingen rund drei Millionen Österreicher*innen das erste Mal seit dem Jahr 1932 zu freien Wahlen. Allerdings in einem unfreien Land – war es doch von den vier Siegermächten besetzt. Von der Wahl ausgeschlossenen waren rund 400.000 ehemaligen Mitglieder der NSDAP, der SS und der SA und anderen nationalsozialistischen Organisationen.
Wie liefen die Nationalratswahlen im Jahr 1945 ab?
Bereits um sieben Uhr morgens standen Wähler*innen in langen Reihen vor den Wahllokalen. Das Schlange stehen waren die Menschen im Nachkriegsösterreich gewohnt - nur in wenigen Geschäften gab es Lebensmittel oder Kleidung auf Bezugsscheine zu kaufen und dies hieß stundenlanges Anstehen. An diesem Sonntag standen jedoch manche bis zu drei Stunden an, um ihre Stimme abzugeben. Am Nachmittag flaute der Ansturm ab. Da fuhren die Lautsprecherwagen los, um die Säumigen aufzurufen ihre Bürgerpflicht zu tun und die „Schlepper“ trugen Gehbehinderte auf Tragen zu den Wahllokalen.
Polizisten bewachten die Wahllokale außen und drinnen saßen die Mitglieder Wahlkommission mit Hüten auf den Köpfen und eingewickelt in dicke Mäntel – es gab kein Heizmaterial. Durch Wien fuhren Panzer, um bei etwaigen Problemen sofort eingreifen zu können. Auf den Straßen lagen tausende Streuzettel und an Hauswänden klebten Wahlplakate der drei Parteien: ÖVP, SPÖ und KPÖ.
Welche Parteien traten zu den Nationalratswahlen im Jahr 1945 an?
Die ÖVP versuchte in der Wahlwerbung von ihrer Vergangenheit im Austrofaschismus abzulenken und warb u. a. mit dem Slogan „Österreich empor“ oder mit direkten Angriffen auf die „Roten“, die SPÖ verwies auf ihre Rolle bei der Arbeitsrechts- und Sozialgesetzgebung in der Ersten Republik und zeigte die Schrecken von elf Jahren Faschismus auf. Die KPÖ positionierte sich klar gegen Krieg und Faschismus.
Eine neue Zielgruppe waren die Frauen. 62 Prozent aller Wahlberechtigten waren Frauen. Es ging aber nicht um Frauenrechte, sondern darum, dass sie daran erinnert wurden, wie sehr sie während des Zweiten Weltkrieges gelitten hatten und das dies in Zukunft zu vermeiden gilt.
Alle drei Parteien hielten eigene Wahlversammlungen für Frauen ab. Die SPÖ warb mit „Arbeitsfrau in Stadt und Land nimm dein Schicksal in die Hand“, die ÖVP mit „Wir müssen unsere Würde als Lebensträgerinnen und Lebenshüterinnen zurückerobern“ und die KPÖ mit „Frau, die Nazi haben ihn (Anmerkung: Sohn) von Deiner Seite gerissen, stimme für ihn – wähle kommunistisch“.
Die Slogans zeigten deutlich, dass die Parteien an den Stimmen der Wählerinnen zwar interessiert waren, aber nicht an Frauen als Politikerinnen. Es zogen dann auch nur neun Frauen von 163 Abgeordneten ins Parlament ein.
Das Wahlergebnis der Nationalratswahlen 1945
Um 16.00 Uhr schlossen die Wahllokale. Die Übermittlung der einzelnen Ergebnisse dauerte lange. Die Straßen waren zerstört und das Telefonnetz funktionierte noch nicht überall. Boten brachten die Ergebnisse und auch die Alliierten stellten Fahrzeuge zur Verfügung. Erleichtert wurde die Auszählung dadurch, dass dies wohl der erste Tag seit Jahresbeginn war, an dem der Strom nicht ausfiel.
Obwohl die Alliierten eigentlich angeordnet hatten, dass die Wahlergebnisse nur bei Tageslicht – zwischen 9.00 und 15.00 Uhr bekannt gegeben werden durften, sickerten kurz nach Mitternacht die ersten Ergebnisse durch und die Morgenzeitungen berichteten bereits vom Wahlsieg der ÖVP (85 Mandate), die SPÖ errang 76 Sitze und die KPÖ vier. ÖVP und SPÖ bildeten die erste Koalition der Zweiten Republik.
Wer waren die Abgeordneten?
Die 163 gewählten Abgeordneten der drei Parteien hatten einiges gemeinsam. Sie stammten nicht nur aus Österreich, sondern auch aus ehemaligen Kronländern der Monarchie, sie waren frühere k.u.k. Offiziere und Adelige, sie waren Juristen, Bäcker, Hufschmiede, Buchbinder, Filmetechniker, Bahnbeamte, Fleischhauer, Lehrerinnen, trugen Titel wie Zunftmeister, Ökonomierat und Kommerzialrat, waren Betriebsrätinnen, Gewerkschafter*innen, Frauenrechtskämpferinnen und einer war sogar Weltmeister im Schwimmen.
Die Abgeordneten unterschieden sich jedoch in ihren politischen Laufbahnen. Die Mandatare der SPÖ waren Großteils schon während der Ersten Republik nicht nur in der Partei aktiv gewesen, sondern auch in den Freien Gewerkschaften. Sie verband auch, dass viele von ihnen nach den Februarkämpfen 1934 von den Austrofaschisten verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt und verurteilt wurden oder flüchten mussten oder im Untergrund Mitglieder der illegalen Gewerkschaften wurden.
Auch für die ÖVP zogen auch Abgeordnete ein, sie waren während des Austrofaschismus Mitglieder der paramilitärischen faschistischen Heimwehr, der Vaterländischen Front, der ständestaatlichen Einheitsgewerkschaft gewesen – und wie sich später herausstellte, auch so mancher NSDAP-Mitglied gewesen.
Während des Nationalsozialismus verbanden sich die Schicksale der Abgeordneten der beiden Parteien teilweise wieder. Sie flüchteten oder wurden verhaftet, vor Gericht gestellt, verurteilt, in Konzentrationslager deportiert oder strafweise an die Front geschickt. Manche gründeten im Untergrund Widerstandszellen.
Sie alle saßen nun im Nationalrat und vor ihnen lag die enorme Aufgabe das zerstörte Österreich, das von den vier Alliierten besetzt war, wiederaufzubauen.
Den Geschäftsbesitzerinnen und den Hausmeisterinnen blieb jedoch am 26. November 1945 eine Zusatzaufgabe: die Plakate von den Rollbalken und den Schaufenstern zu schaben und die Streuzettel zusammen zu kehren. Und die Menschen standen wieder vor den Geschäften in Schlangen an, um Lebensmittel zu ergattern.