Ganz ungeniert in fremde Wohnungen gehen, schauen, wie die Leute dort wohnen? In London, Melbourne, Rom und New York ist das ganz normal. Seit 2014 kann man auch in Wien ein Wochenende lang das Innenleben von Gebäuden besichtigen: von Privatwohnungen über Bildungseinrichtungen bis hin zu Fabriken.
Die Architektin und Mitbegründerin von Open House Wien, Iris Kaltenegger, kennt die Idee aus Großbritannien: Dort können BesucherInnen schon seit 1992 sonst nicht öffentlich zugängliche Gebäude besuchen. Kaltenegger stand in London selbst stundenlang an, um eines der 800 Gebäude zu besichtigen. Sie fragte sich, ob dies in Wien auch machbar sei. Tatsächlich sollte es bis 2012 dauern, bis sie beschloss, Open House in Wien zu veranstalten. Zwei Jahre später besuchten bereits 30.000 Menschen die 70 Gebäude – bei freiem Eintritt.
82 Gebäude
„Es geht um das Erleben der Gebäude. Wie ist es sich anfühlt, in das Innerste sonst verschlossener Räume einzudringen,“ sagt Kaltenegger. Es geht ihr darum, die architektonische Vielfalt der Stadt zu zeigen, quer durch alle Formen, Epochen und Nutzungsmöglichkeiten: von Infrastruktureinrichtungen wie dem Wasserturm in Favoriten, dem Umspannwerk Wienerberg, den Wohnbauten von der „Stadt des Kindes“, Gebäude mit innovativen Energielösungen wie das TU-Wien-Plus-Energie-Bürohochhaus und Wohnungen im Karl Marx Hof oder im ersten Wiener Strohhaus. Sie zeigt aber auch Sakralbauten wie die Neuapostolische Kirche und natürlich die Klassiker wie das Hochhaus in Herrengasse und die Österreichische Postsparkasse.
Heuer öffnen 82 Gebäude am 12. und 13. September ihre Türen für BesucherInnen. Betreut werden sie von Freiwilligen, die den Gebäuden bei Hausführungen ihre Stimme leihen. Erstmals gibt es heuer auch Kinderführungen durch sechs Gebäude: dem Kindergarten in der Schukowitzgasse II, Oase 22, Prater Apartments, Wohnarche Atzgersdorf, Robbition, WOHN_ZIMMER. Der Verein AHDF bringt sieben- bis zwölfjährigen Kindern auf spielerische und aktiv mitgestaltende Weise Architektur näher.
Vienna Architecture Guide
Im Metroverlag ist die passende Begleitliteratur, der Vienna Architecture Guide, erschienen. Auch, wenn sich die Autoren nicht ganz sicher sind, ob es ein Begleitbuch zum Open-House-Wochenende oder doch ein eigenständiger „etwas anderer“ Architektur-Guide ist, bietet er Hintergrundinformationen zu den 82 Gebäuden. In zahlreichen Interviews erzählen etwa GemeindebaubewohnerInnen von ihrem Leben oder BauingenieurInnen von ihrer Berufswelt. In kurzen Essays werden innovative Projekte vorgestellt, wie die Wiener Essig-Brauerei in Favoriten oder das Wohnprojekt in der ehemaligen Sargfabrik. BewohnerInnen von Wohngemeinschaften wie der Vinzirast-Mittendrin, wo Studenten und ehemals obdachlose Menschen sich eine Wohnung teilen. Und über das via Crowdfunding finanzierte Magdas-Hotel, in dem jugendliche Flüchtlinge und Hotelgäste unter einem Dach schlafen und AsylwerberInnen die Gäste umsorgen. Aber auch von Zwischennutzungsobjekten wie das Packhaus in der Marxergasse, wo auf sechs Etagen und 2000 m² etwa SportwissenschafterInnen, DesignerInnen und JournalistInnen in ihren Studios arbeiten.
Das Buch ist ein kompakter Guide, der neugierig auf Stadtarchitekur macht – weit über das Open-House-Wochenende hinaus.
Vienna Architecture Guide
256 Seiten, € 9,90 (bis 14. September, danach € 14,90)
Metro-Verlag; ISBN 978-3-99300-225-1
Webseite: Open House