Der heute fast vergessene Schriftsteller Robert Michel bildet ein Scharnier zwischen dem altösterreichischen Kakanien und den nervenaufreibenden Herausforderungen der Moderne. Er kehrt 1908 aus der Provinz nach Wien zurück und glaubt in einem Narrenschloss angekommen zu sein. Die als Erleichterungen propagierten technischen Neuerungen, wie die Elektrische (Straßenbahn), machen ihm das Leben schwer. Um in veränderten Großstadt wieder heimisch zu werden, entschließt er sich zu „Großstadtübungen“: Er will seinen „Körper [so trainieren, dass er] die gefährliche Überquerung einer Hauptgasse“ von selbst besorgt, mit entspannten statt angespannten Nerven. Er beschreibt einen Selbstversuch an der Kreuzung Kärntnerstraße und Ring. In einem Buch lesend will er die Straße überqueren, unbeschadet von Passanten, Kutschern und „Straßenverstinkern“ (Autos). Es gelingt ihm. Michel übt auch das Balancehalten in der Elektrischen, nicht den Stößen nachzugeben und keinen Schaden von Hutnadeln und brennenden Zigarren zu nehmen. Ihm fällt auch „eine traurige Tatsache“ auf: die Menschen haben das Schauen verlernt. Das Betrachten Wiens, der Stadt, die „Carriere gemacht hat“.
„Lärmseuchen“ und „Werkelmannplagen“
Michel ist einer von 18 Feuilletonisten der Wiener Moderne, die Payer in seine neues Buch „Wien, die Stadt und die Sinne“ ausgewählt hat. Die Texte sind famos formulierte, subjektive Ausrisse aus dem Großstadtleben. Leichte, fröhliche, wortverspielte Texte, die zeitgenössische Probleme behandeln. Elegant dahingesuderte Texte, wie sie dem gelernten Wiener auch heute noch gefallen können.
Die Feuilletonisten unter ihnen auch der Erfinder der Sozialreportage Max Winter, der „Charles Dickens von Wien Eduard Pötzl und der „Chronist der Unterwelt“ Emil Kläger. Sie liefern sich Schreibduelle über „Lärmseuchen“ und „Werkelmannplagen“. Einige der „Ohrenzeugen“ fordern das „Recht auf Stille“, bewerben Antilärmvereine, die den „Grundakkord des übermässigen Großstadtlärms“ bekämpfen wollen: das „Kleingewehrfeuer des über das Pflaster jagenden Postwagens“, das „Böh-Böh“ der Automobile, das „Höllenkonzert der Elektrischen“ und das „Geknatter der Motorräder“.
Andere wiederum sind „Augenmenschen“, klettern auf den Stephansdom, gruseln sich vor der Pummerin, plaudern mit dem Turmwächter, schauen bis zum Horizont, dort wo neben dem Wald und auch Fabrikschornsteine die Aussicht begrenzen. Sie sitzen in Kaffeehäusern und betrachten Passanten, beobachten, wie Hypochonder im Spiegel ihre Zunge untersuchen, Damen ihre Reifröcke richten und Gassenjungen Grimassen schneiden. Oder sie sehen älteren Herren im Gasthaus zu, wie sie in „einer Wolke von Unzufriedenheit thronen“ und das gegessene Rindfleisch kritisieren.
„Erosion der Sinnesressourcen“
Wieder andere befassen sich mit den Gerüchen der Weltstadt: schreiben Hymnen auf die „Gebäcksymphonie“ im Kaffeehaus, auf Kaisersemmeln, Milchbrot, Riesenkipferln. Einer zitiert Karl Kraus: jede Stadt habe den Geruch, den sie sich verdient. Berlin rieche nach Hölle, Wien aber nach „Paradies mit Pferdemist“.
Durch die gesammelten Essays schauen Leser_innen in die engen Gassen und in versteckte Innenhöfe hinein. Man könnte sich dem Wunsch Michels anschließen, vor dem Stephansdom ein Stück Rasen auszulegen, auf dem Rücken liegend „zu schauen“ und sich so gegen „Erosion der Sinnesressourcen“ zu wehren.
Peter Payer (Hg.)
Wien - Die Stadt und die Sinne
Reportagen und Feuilletons um 1900
Löcker Verlag
309 Seiten, € 22,-
ISBN 978-3-85409-770-9