Eigentlich war es gar nicht seine Idee, die Stadtgrenze von Wien abzugehen, sondern die einer Freundin. Sie führte ihn bei einer privaten Architekturführung durch den 22. Bezirk und erzählte davon. Danach machte sich der Journalist und Autor Wolfgang Freitag auf den Weg und wanderte die 136,5 Kilometer lange Wiener Stadtgrenze ab. Inklusive vieler Umweg: Schließlich halten sich Flussläufe oder Privatgärten nicht immer an die amtlich festgelegt Stadtgrenze. Und Freitag wollte sich keine Klagen wegen Hausfriedensbruch einhandeln.
Er ist Vielgeher, besitzt kein Auto und war so beim Transport zu den Ausgangspunkten der Stadtgrenzenwanderungen auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. „Man kommt fast überall hin. Nur zwischen Laab im Wald und dem Wiental gibt es keine Verbindung, und entlang der Außenmauer des Lainzer Tiergartens kann der Spaziergang sehr lang werden,“ sagt Freitag. „Aber es sind keine Marathontouren.“
Mount Everest
Auf seinen Spaziergängen machte er mikroskopische Entdeckungen wie den Stoffbären am Exelberg, traf erstaunliche Menschen wie einen Pfarrer, der in Zwangsruhestand versetzt wird und seinem faden Lebensabend in einem Kloster entgegen sieht. Freitag stieg 17 Stockwerke tief in Wiens Untergrund, durch einen der Notausgänge des Wientaltunnels. Hier entdeckte er eine der beiden Grenzmarkierungen, die Niederösterreich und Wien offiziell trennen. Dabei geht es um Zuständigkeitsbereiche, wer bei einem Unfall aktiv werden muss. Die zweite Grenzmarkierung legt die „Streugrenze“ fest: wo der Wiener Winterdienst endet und der niederösterreichische beginnt.
„Es hat einige Jahre gedauert, bis ich die ganze Grenze abgewandert bin. Oft habe ich erst beim Gehen spannendes und interessantes entdeckt,“ sagt Freitag. Er besuchte den Wächter des verfallenden Industriedenkmals „Hammerbrotwerke“: von dem ursprünglichen Gedanken, günstiges Brot zu backen, sind nur mehr bröckelnde Mauern geblieben. Am Bisamberg traf er den letzten Bewohner der Sendeanlage. Obwohl der dazugehörige Sendemast 2010 gesprengt wurde, kümmert er sich um die nicht mehr genutzten technischen Geräte im Hauptgebäude. Am Zentralverschiebebahnhof fuhr er mit einem Zug auf ein Abstellgleis und nahe der Außenringschnellstraße S1 bestieg er über die Ostflanke, einem Lärmschutzhügel, der der „kleinste Mount Everest“ heißt.
Autoleichen
„Wer etwas über die Zentren erfahren will, muss an die Ränder gehen“ schreibt Freitag in seinem Buch. Er begann seine Wanderungen beim Friedhof der Namenlosen, marschierte zur Bauschuttdeponie Langes Feld und besuchte in Vösendorf den Besitzer des wohl berühmtesten Autoersatzteillagers Österreichs: Auto Metzker. In den 1960er und 1970er Jahren war hier der größte Autofriedhof Europas. „8000 Autoleichen in unterschiedlichen Verwesungszuständen“ stapelten sich am Ende der Triesterstraße.
Freitag wandert weiter über ehemalige Mülldeponien, durch Urwälder und hinauf in den Wienerwald.
Seine Bestandsaufnahme der Orte an Wiens Grenzen zeigt wie skurril, einsam aber auch wunderschön sie sein können. Sein Buch ist eine Einladung zu Grenzerfahrungen der anderen Art.
Wolfgang Freitag
Wo Wien beginnt
Eine Erkundung der Stadt vom Rand her
Erschienen im Metroverlag
208 Seiten, 13,5 x 20 cm
ISBN 978-3-99300-210-7
€ 19,90
Beim Liebingsbuchhändler kaufen
Bei LChoice bestellen