Geronimo Noah Hirschal, EPU-Sprecher des Wiener Sozialdemokratischen Wirtschaftsverbandes (SWV), lebte in der ersten Adventwoche von Montag bis Donnerstag in einem transparenten Plexiglaswürfel mit der Aufschrift # Meine Kammer auf der Mariahilfer Straße, um auf die prekären Arbeitsbedingungen von Ein-Personen-Unternehmen (EPU) aufmerksam zu machen. Der 34-jährige PR-Berater wurde dabei 24 Stunden pro Tag gefilmt, die Bilder wurden live im Netz übertragen. Das Ziel der Aktion war, die Kleinunternehmer zur Stimmabgabe bei den kommenden Wirtschaftskammer-Wahlen im Februar zu bewegen. Im ersten Teil des Interviews hat er erzählt, was er mit der Aktion erreichen wollte und wie ranghohe Politiker in seiner Partei darauf reagiert haben. Im zweiten Teil geht es unter anderem um das komplizierte Wirtschaftskammerwahlrecht und die Hoffnung auf eine zukünftige Reformpartnerschaft.
„Die Chance ist in Wien“
dieZeitschrift: Viele EPUs waren bei der letzten Wirtschaftskammerwahl 2010 nicht wählen.
Hirschal: Das hat ein einfachen Grund. Warum soll ein EPU eine Institution wählen, die ihn erstens nicht ausreichend darüber informiert, dass es eine Wahl gibt? Und die zweitens nichts für ihn tut, außer einmal im Jahr eine Rechnung zu schicken. Die Wirtschaftskammer wird absolut vom ÖVP-Wirtschaftsbund regiert, und ich unterstelle ihm, dass er die Kammer und die Kammerbudgets dazu nutzt, Parteipolitik zu betreiben, obwohl die Wirtschaftskammer eigentlich eine überparteiliche Institution sein sollte. Wir haben einen Antrag eingebracht, damit jedem Kammermitglied in Zukunft ungefragt eine Wahlkarte zugeschickt wird wie es ja bei anderen Wahlen auch üblich ist. Das wurde im Wirtschaftsparlament abgelehnt. Das Demokratieverständnis bei den Wirtschaftskammerwahlen ist absurd. Die EPUs haben in Österreich aber die absolute Mehrheit und daher die Möglichkeit, massiv einzugreifen, indem sie wählen gehen. Ich finde es toll, dass wir nicht die einzigen sind, die sich um das EPU-Thema kümmern. Das machen auch andere Fraktionen.
dieZeitschrift: Welche Fraktionen meinen Sie genau?
Hirschal: Die Grüne Wirtschaft und die UNOS, also die Wirtschaftskammer-Gruppe der NEOS. Letztere treten 2015 zum ersten Mal bei den Wirtschaftskammer-Wahlen an.
dieZeitschrift: Realistischerweise gibt es aber nur in Wien die Chance, die Mehrheit des Wirtschaftsbundes zu verhindern. Hier hat er das letzte Mal nur noch 50,4 Prozent erreicht.
Hirschal: Das stimmt, die Chance ist in Wien.
„Eine Partei mit 40 Prozent der Stimmen kann 60 Prozent der Mandate kriegen“
dieZeitschrift: Die Sozialdemokraten haben aber 2010 Stimmen verloren, während der Wirtschaftsbund sogar hauchdünn dazugewonnen hat. Glauben Sie, dass der SWV 2015 wieder zulegen wird?
Hirschal: Wir arbeiten hart dran. Diese Zahlen haben aber auch einen anderen Hintergrund. Es kann nämlich sein, dass der Wirtschaftsbund nicht die absolute Mehrheit in Stimmen hat, aber in Mandaten. Das liegt an dem sehr komplizierten Stimm- und Mandatsumrechnungs-Schlüssel. Die Stimmen werden von den Fachgruppen auf die Spartenebene übertragen und von dort ins Wirtschaftsparlament. Die Ergebnisse der Urabstimmung werden dadurch doppelt verfälscht. Es kann sein, dass eine Partei mit 40 Prozent der Stimmen 60 Prozent der Mandate kriegt.
dieZeitschrift: Können Sie dieses Wahlrecht in zwei Sätzen so erklären, dass es jeder versteht?
Hirschal: Ich kann es sogar in einem Satz leicht erklären: Teile und Herrsche. Man teilt Berufsgruppen in verschiedenen Fachgruppen so auf, dass ganze Wählergruppen neutralisiert werden. Wenn man eine große Berufsgruppe in eine Fachgruppe integriert, wo die absolute Mandatszahl, nämlich 32 pro Fachgruppe, schon erreicht ist, dann kann sich nur innerhalb dieser Fachgruppe die Mehrheit verschieben. Und das hat dann in Kombination mit Verschiebungen in anderen Fachgruppen eher geringe Auswirkungen auf die nächste Ebene, die Spartenebene. Es ist irrsinnig kompliziert. Ich glaube, das ist Absicht. Es ist darauf ausgerichtet, Macht zu erhalten. Ich habe selber sehr lange gebraucht, bis ich dieses Wahlrecht verstanden habe. Ein krasses Beispiel: Wir haben knapp 170 Bankenvertreter in Wien, die im Wiener Wirtschaftsparlament zehn Mandatare sitzen haben. Die Innovations- und Zukunfts-Sparte IT & Consulting, in der auch „meine“ Fachgruppe Werbung eingegliedert ist, hat bei 38.000 Mitgliedern gerade mal 11 Delegierte. Demokratie sieht in meinen Augen anders aus
„Ich hätte gerne eine Reformpartnerschaft“
dieZeitschrift: Wie wird das argumentiert?
Hirschal: Mit dem Begriff „Wirtschaftliche Bedeutung“. Das wäre eine politische Diskussion wert. Ist es wirklich so, dass die Großindustrie und die Banken für den Wirtschaftsraum so viel Gutes tun, dass sie diese überproportionale demokratische Macht verdienen? Ich bezweifle das.
dieZeitschrift: Ist der SWV nun speziell in Gesprächen mit den Grünen und den UNOS? Was passiert, wenn diese drei Parteien in Wien die Mehrheit des Wirtschaftsbundes knacken? Wird es dann eine Dreier-Koalition geben?
Hirschal: Ich kann nicht sagen, welche Entscheidungen mein Präsident nach der Wahl treffen wird. Und auch nicht, was die anderen Fraktionen nach der Wahl machen werden. Aber ich hätte gerne eine Reformpartnerschaft. Wer dabei der Partner ist, ist mir relativ egal. Allerdings würde ich nie etwas mit der Freiheitlichen Wirtschaft machen. Die spielen sowieso ein böses Spiel mit ihren Wählern. Sie tun so, als ob sie sich für den kleinen Mann einsetzen würden, aber im Endeffekt sind sie nur Großindustrielle. Allein schon die Bezeichnung „kleiner Mann“ oder „die kleine Leute“ spiegeln für mich das überkommene Gesellschaftsverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts wider. Wer mündige, selbstverantwortliche Bürger will, muss sie auch so sehen und so behandeln.
dieZeitschrift: Denken Sie da an den Fall Fritz Amann? (Anmerk: Der FPÖ-Mann und damalige Vizepräsident der Wirtschaftskammer Fritz Amann hat EPUs in einem Interview als Tagelöhner bezeichnet. Er trat kurz darauf zurück.)
Hirschal: Amann war für mich der Anlass-Fall, um voll in die Politik einzusteigen. Und die ÖVP tut noch immer so, als wäre sie die Wirtschaftspartei, dabei macht sie für einen Großteil der Wirtschaftstreibenden kontraproduktive Politik. Wir Sozialdemokraten möchten die Kleinunternehmer und die Mittelbetriebe vertreten.
„Es gibt jetzt eine junge Truppe, die das Thema aufrollt“
dieZeitschrift: Man muss den Sozialdemokraten aber vorwerfen, dass sie sich in den letzten Jahrzehnten immer nur um die Angestellten und Arbeiter gekümmert und die EPUs überhaupt nicht wahrgenommen haben.
Hirschal: Absolut. Aber deshalb gibt es jetzt hier eine junge Truppe, die das Thema aufrollt.
dieZeitschrift: Wird diese junge Truppe von den Alten auch gehört?
Hirschal: Nachdem drei Nationalratsabgeordnete bei mir waren, um mit mir über diese Themen zu reden, würde ich mal sagen: „Ja.“ Aber wir stecken mittendrin in einem strukturellem Wandel. Wir müssen uns fragen, wir wir diesen Wandel schaffen, ohne starke Friktionen herbeizuführen. Wenn man aber etwas Neues macht, und es funktioniert, dann entwickelt sich eine so hohe Strahlkraft, dass jeder gerne dabei ist. So kann man Geburtshelfer für das Neue und Hospizbetreuer für das Alte sein.
dieZeitschrift: Ein Schöner Spruch.
Hirschal: Ja. Der ist aber nicht von mir sondern von Alfred Strigl von den den Pioneers of Change.