In 29 Jahren 120 Mitbewohner aus 30 verschiedenen Nationen. Das ist Wolfgangs WG-Erfahrung in Zahlen. Und es wird noch mehr werden, denn der 63-jährige Psychologe hat noch immer nicht genug vom Leben in der Wohngemeinschaft. Im Moment lebt er mit drei jungen Frauen, Vanessa aus aus Spanien, Laura aus Belgien, Johanna aus Österreich und dem Mittdreißiger Martin zusammen. Der Wiener will aber bald ausziehen und wird sein Zimmer in drei Wochen dem vietnamesischen Studenten Quan überlassen.
Die Altbauwohnung hat 120 Quadratmeter und besteht aus fünf einzeln begehbaren Zimmer, und einer kleinen Küche. Im Vorraum hängt die Wäsche, die fast bis an die Decke hochgezogen wird, um Platz zu sparen. In der Küche gibt es noch einen dieser uralten Durchlauferhitzer. Darunter hängt ein Kübel, „falls es tropft.“ „Es ist alles da, was man braucht. Ich musste kein Geschirr mitbringen, als ich eingezogen bin.“ sagt Vanessa.
Im Jahr 1985 hat Wolfgang mit vier anderen gemeinsam seine erste WG in Wien-Mariahilf gegründet. 1994 musste das Fünfer-Gespann ausziehen. Wolfgang suchte mit ein paar seiner Mitbewohner erneut eine WG-taugliche Wohnung im 6. Bezirk. Die bewohnt er bis heute mit vier anderen. Er ist als einziger geblieben, alle anderen kamen und gingen.
Die moralische Liste
Dass er bisher mit ungefähr 120 Leuten zusammengewohnt hat, weiß er nur deshalb so genau, weil sich die französische Le Monde-Journalistin die Mühe gemacht hat, eine Liste zu erstellen. Der 63-jährige orientiert sich lieber an der WG-eigenen Hall of Fame in der Gemeinschaftsküche. „Der auf dem Foto da oben ganz rechts, der war ein Nobelpreisträger aus Georgien“, sagt er und zeigt auf die gesammelten Porträtfotos an der Wand. „Der hat den schnellsten Laser gebaut, als er hier gewohnt hat, damit hat er drei Jahre den Weltrekord gehalten.“ Wolfgang dreht sich eine Zigarette und denkt nach. „Musiker hatten wir einige. Zum Beispiel aus Montreal. Und dann gab es diesen kosovarischen Geiger, der bei den Wiener Philharmonikern gespielt hat.“ Eine bekannte TV-Moderatorin hat auch vor vielen Jahren hier gewohnt. „Aber von der schreibst den Namen nicht,“ sagt er.
Martin wedelt mit der moralischen Liste, wie sie die Einkaufsliste nennen, die an der Kühlschranktür hängt. Klopapier, Gewürze, Milch, Basislebensmittel werden abwechselnd von den Mitbewohnern eingekauft.. „Das funktioniert auf Vertrauensbasis,“ erklärt er. Die Einkäufe werden auf dem Zettel notiert. „Wer länger nicht draufsteht, sollte selber draufkommen, dass er wieder mal mit dem Einkaufen dran ist.“ Fixe Regeln gibt es sowieso nicht. „Wenn es gefühlt zu dreckig ist, putzt halt irgendwer,“ ergänzt Wolfgang. „Und wenn ich koche, frage ich die Anwesenden, ob sie mitessen wollen.“
„Pro Zimmer stehen zwanzig Leute in der Schlange“
Vanessa gerät ins Schwärmen. „Ich liebe mein Zimmer, meinen Job, ich fühle mich hier so wohl. Wien ist ein tolle Stadt.“ Es sei sehr schwierig gewesen, eine Bleibe in Wien zu finden. Die belgische Erasmus-Studentin Laura nickt zustimmend. „Pro Zimmer stehen zwanzig Leute in der Schlange,“ sagt sie. Die meiste Zeit ist sie aber ruhig. Ihr Deutsch ist noch nicht so gut wie das von Vanessa. Als Wolfgang die Geschichte „vom bladen, schiachen und depperten Mexikaner“ erzählt, der aus ihm unverständlichen Gründen das Herz der schönen russischen Mitbewohnerin erobern konnte, steigt aber auch die Spanierin aus. .„Vielleicht war er so guat im Bett,“ vermutet Wolfgang.
„Einer, der hat immer die Mädels angefasst, wenn er ohne Aufsicht war, den hab ich rausgeschmissen,“ erinnert sich der Psychologe. Da gab es die hübsche, irische Musikerin mit „...dem problematischen Verhältnis zum Wasser, die hat man schon auf zwei Meter Distanz gerochen.“ Und die Liebe, die hätte öfters für Probleme gesorgt. „Es ist immer wieder vorgekommen, dass jemand unglücklich in einen Mitbewohner verliebt war.“ Der Unglückliche sei dann meistens bald ausgezogen. Dann gab es dieses WG-Pärchen, das die ganze Zeit gestritten hat. „Der Typ hatte eigentlich Nerven wie ein Drahtseil. Aber einmal zu Silvester ist ihm seine Holde so auf die Nerven gegangen, dass er zur nächsten Polizeiwache ging, um eine Ersatzhaftstrafe wegen eines Verkehrsdelikts sofort anzutreten, um ein paar Tage Ruhe zu haben.“ Wolfgangs Mitbewohner soll daran gescheitert sein, „...dass die Zelle noch nicht eröffnet war. Er hat sich dann mit den Polizisten besoffen. ‚Kumm wieda, wenn wir Dienst ham, mia san de Dreierschicht‘, haben die Beamten beim Abschied gesagt.“
„Du kannst da nicht deppert am Egotrip sein“
Traurige Erinnerungen gibt es auch. Einige ehemalige Mitbewohner sind schon gestorben. „Einer hatte Krebs, einer beging Selbstmord, ein anderer wurde ermordet.“
Die Zimmer waren in all den Jahren fast durchgehend belegt. Schwierig sei es nur in den Sommermonaten, jemanden zu finden. „In letzter Zeit melden sich viele junge Frauen aus EU-Krisenländern wie Nordfrankreich, Ungarn oder Portugal auf unsere Inserate“.
Hat er nie daran gedacht, auszuziehen? „Vor ein paar Jahren dachte ich mir, jetzt bist du zu alt für so ein Kasperltheater. Aber dann wurde es wieder besser.“ Einmal ist eine gute Freundin aus der Wohngemeinschaft ausgezogen, und er hat sie gefragt, warum. „Sie hat geantwortet: ‚Eine WG funktioniert nur dann, wenn sich alle so benehmen, als wären sie der Gast vom anderen.‘ Sie hatte recht. Du kannst da nicht deppert am Egotrip sein.“