Die Stille im Weinbaugebiet Grinzing trügt: Die ersten Weintriebe schauen auf die Großstadt hinunter. Ein einsamer Jogger läuft die Himmelstraße entlang. Ein Bus entlässt japanische Touristen. Sie eilen dem Reiseführer hinterher, hinein in einen der wenigen Heurigen die im Traditionsweinort noch ausstecken. Kurz darauf ertönt Schrammelmusik. Die Idylle lockt jährlich 100.000e Wiener und Touristen in den Dorfkern mit alten Gebäuden und engen Gassen.
Doch in den alten Weinhauerhäusern gärt nicht nur der frische Wein, sondern auch der Kampf um Grundstücke und Baugenehmigungen. Seit mehr als 50 Jahren ist das Gebiet bei Immobilienentwicklern beliebt, und das führte zu zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Anrainern.
Immer weniger Weinbauern können von ihren Stöcken und den Heurigenbetrieben leben. Sie schließen ihre Betriebe und verkaufen die begehrten Immobilien. Aus den Gaststuben werden Wohnzimmer und in Innenhöfen stehen statt Gartenstühlen hohe Wohnhäuser. Dabei gab das Stadtbauamt schon 1936 eine Studie über den Bau einer Umfahrungsstraße und der Gestaltung Grinzings in Auftrag. Aber dabei blieb es. In den 60er Jahren gab es erste Pläne, den noch existierenden Altbestand zu schützen.
1972 demonstrierten Erika Pluha und Roman Schliesser mit Anrainern gegen eine geplante Verbauung. Sie erreichten, dass die Gemeinde Wien einen kurzzeitigen Baustopp verhängte. In den folgenden Jahren wurde von Architekten ein „Entwicklungsplan für Grinzing“ erstellte, daraus geht hervor, dass rund 30.000 m² Weingärten die Verbauung droht.
Für den Weinbauern und Heurigenbesitzer Franz Hengl ist diese Entwicklung sehr bedenklich. Er fürchtet, dass die Fassaden des weinseeligen Angerdorfs bald nur mehr als Dekoration für Luxuswohnungen dienen werden. Schon in den 70er-Jahren war er Mitinitiator einer Rettungsaktion. Gemeinsam mit der Stadt Wien wurden 42 Hausfassaden renoviert.
Weinrepublik
Trotz der Renovierungen des Altbestandes wurden zusätzlich neue Gebäude errichtet. Es kam laut Hengls Erzählungen, zu heftigen Diskussionen zwischen bauwilligen Stadtvätern und wehrhaften Grinzingern. Hengl erinnert sich, dass ein Stadtbeamter gesagt haben soll: „Wien brauche Grinzing nicht und Grinzing habe sowieso keine Freunde mehr.“ Das spornte Hengl erst recht an: „wenn Wien Grinzing nicht braucht, dann braucht Grinzing Wien auch nicht“.
Hengl gründete am Faschingdienstag 1976 kurzerhand die Weinrepublik Grinzing. Aber auch mit der Abspaltung von Wien war es ihm „ernst“. Ist er doch der Meinung, dass Grinzing 1892 von Wien „annektiert“ und „entmündigt“ worden sei. Er ließ spaßeshalber eine Studie erstellen, in der beleuchtet wurde, ob Grinzing wieder in eine eigene Gemeinde, einen Freistaat oder in ein 10. Bundesland umgewandelt werden kann. „Seither sind sie im Rathaus böse, sie verstanden den Scherz nicht“, sagt er.
Grinzing sei eines der Zentren der Immobilienspekulation Österreichs, „alle wollen in 15 Minuten am Stephansplatz sein, aber aus den Wohnzimmerfenstern den Rehen beim äsen zuschauen“, sagt Hengl. Um dem Verkauf und der möglichen Verbauung der Weingärten entgegenzusteuern, erfand Hengl 1978 die „Weinstock-Aktion“. Für einen Beitrag von 500 Euro kann jeder einen Weinstock in Grinzing kaufen, die Dividende sind 2/4 Grinzinger Wein pro Jahr und eine Urkunde, die das Mitglied der größten Winzergemeinschaft der Welt als „Bürger von Grinzing“ ausweist.
Er verkaufte und verschenkte die Mitgliedschaft an nationale und internationale Prominente. Stolz zeigt er Heurigenbesuchern die Fotos der „Bürger von Grinzing“: Alain Delon, Siegfried und Roy, Dalai Lama, Thomas Gottschalk und Bill Clinton. Mit der Aktion versuchten Hengl und seine Mitstreiter gegen die Bodenspekulation zu mobilisieren und Weingärten zurückzukaufen. Dafür wurde er auch von Sophia Loren geküsst, „das war sehr angenehm“.
Weltkulturerbe
2003 kam Hengl „Mr. Weltkulturerbe“ Christian Schuhböck zur Hilfe. In Hengls Auftrag erstellte er im Jahr darauf eine Vergleichs- und Machbarkeitsstudie, ob Grinzing und die Weingarten-Kulturlandschaft als UNESCO-Welterbe gelten könnte. Er kam zum Schluss, dass es mit „genügend politischen Willen“ durchaus möglich wäre. Doch Bürgermeister Michael Häupl sprach sich im Mai 2007 gegen die Verleihung des Weltkulturerbe-Prädikats aus. Dabei stützte er sich auf die Ergebnisse einer Kommission, „dass Grinzing nicht die Kriterien für das Welterbe erfülle“. Auch 2013 wurde eine diesbezügliche Petition abgelehnt.
Inzwischen entstanden immer mehr Zu- und Umbauten. Anrainer beklagten die vielen Bausünden: vom neuen Grinzinger Bad bis zum Mehrparteienhaus in der Sandgasse 20. Der Bezirksvorsteher von Döbling, Adolf Tiller, kennt die Problematik seit seinem Amtsantritt 1979. „Wir sind der erste Bezirk gewesen, der sich für die die Erhaltung des alten Dorfkerns und der Errichtung einer Schutzzone eingesetzt hat“, sagt er.
Trotzdem kann er nicht viel tun. Als Bezirksvorsteher kann er die Baubehörde nicht beeinflussen. „Wir können immer nur raufen und kämpfen. Wir haben bei den Verfahren keine Parteienstellung. Und solange die ausgestellten Genehmigungen rechtlich in Ordnung sind, kann ich als Bezirksvorsteher nichts dagegen unternehmen.“
Aber mehrere Bürgerinitiativen wehrten sich gegen eine weitere Verbauung, und schließlich wurde 2007 auf Betreiben des Stadtrates Rudi Schicker ein Bürgerbeiligungsprojekt gegründet. Zwei Jahre lang wurde am Plan für die zukünftige Gestaltung des Ortes gearbeitet. Es ging um die Erweiterung der Schutzzone und Erhaltung der kleinteiligen Strukturen des alten Ortskerns. Es sollten nur Gebäude der Bauklasse I errichtet werden dürfen.
In Grinzing schien wieder Friede eingekehrt zu sein. Bis Hengl und Bürgeraktivisten erfuhren, dass es wieder eine Baugenehmigung für ein neues Wohngebäude gäbe. „Wir dachten, wir hätten das Haus „Weinbottich“ gerettet, bis wir die Kräne auffahren sahen“ sagt Hengl, „Drei Wohnblocks mit zwölf Wohnungen sollen im Hof des Winzergebäudes entstehen. Gleich neben einem der ältesten Gebäude Wiens und einem wunderschönen alten Hof und Garten“, ärgert sich Hengl. Auch dagegen wird er sich wehren.