Sensationelle Affäre auf Schloß Raabs
„Drama auf Schloß Raabs“ titelt im Juni 1926 die Wiener Sonn- und Montags-Zeitung. Der eigens ins Waldviertel entsandte Sonderkorrespondent berichtet vom tragischen Ende eines Liebesdramas. Der Schlossbesitzer und Großindustrielle Hugo Freiherr Klinger von Klingerstorff und der angebliche russische Großfürst Constantin Orlow hätten wegen einer der „schönsten Frauen Wiens“ aufeinander geschossen; sie habe darauf Selbstmord begangen. Orlow starb wenige Tage später an den Folgen der Schussverletzung. Im Juni 1926 spricht ganz Österreich von der „sensationellen Affäre auf Schloß Raabs“: War die Affäre ein Unglück oder aber der hinterhältige Mordanschlag eines Heiratsschwindlers?
Auf Schloß Raabs
Heute ist von der „Sensation“ nicht viel geblieben. Sie ist nur eine der vielen Geschichten, die man bei der Führung durch das Schloß Raabs erfährt. Ein Foto am Kaminsims des ehemaligen Musikzimmers erinnert an Sibylle von Spiegelfeld, verheiratete Klinger von Klingerstorff. Die Tochter aus einem berühmten Adelsgeschlecht galt in den 1910er- und 1920er-Jahren als eine der schönsten Frauen Wiens, besuchte Salons und verkehrte mit Fürstinnen, Ehefrauen kaiserlicher Räte und Generalkonsuln. Während des Ersten Weltkrieges spendete sie Figurinen für Versteigerungen zu Gunsten des Roten Kreuzes, sang „mit wohldurchbildeter, großer und klangvoller Stimme“ bei Wohltätigkeitskonzerten für im Feld erblindete Soldaten, besucht gemeinsam mit der späteren Kaiserin Zita Verwundete im Radetzkyspital. Und 1915 lernt sie Hugo Freiherr Klinger von Klingerstorff im Lazarett in Troppau kennen.
Von Hugo Freiherr Klinger von Klingerstorff ist auf dem Schloss kein Bild mehr erhalten. Er kaufte das Schloss 1912 und kurz später auch die nahegelegene Ruine Kollmitz; 1914 folgte das Schloss Großau. Er ist außerdem Miteigentümer von Herrschaften in Kärnten; bis 1925 verdient er sein Geld durch den Bau von Mühlen und Möbeln. Während des Ersten Weltkrieges dient er im Rang des Landsturmoberleutnants beim Oberkommando und wird für „vorzügliches Verhalten gegenüber dem Feinde“ ausgezeichnet.
Im Mai 1916 heiraten Sibylle und Hugo in der Wiener Votivkirche. Eine „typische Beziehung“: ein reicher Mann ehelicht eine Frau eines „wenig begüteten“, aber alten Adels. Sibylle habe es eigentlich recht gut getroffen, schreibt ein Reporter der Linzer Tages-Post: auch wenn Hugo wesentlich älter ist als sie und nicht sehr weltfroh, liebt er sie abgöttisch und besitzt außerdem ein beachtliches Vermögen.
Die Boulevardblätter berichten über die Vermählung. Später auch über die drei zwischen 1918 und 1921 geborenen Kinder, Madeleine, Hubert und Albertine, die „wie sonnige Frühlingsfreude anmuten“. 1918 zieht die Familie in das Schloß Raabs im Waldviertel.
Im November 1918 werden die Adelstitel abgeschafft und sie hießen von nun an „nur mehr“ Klinger. Trotzdem spricht sie jeder mit Herr oder Frau Baron an.
Der Schlossherr erfreut sich wegen „seines entgegenkommenden Wesens“ großer Sympathien in der Stadt Raabs. Sibylle soll wegen ihres „überaus reizbare Temperaments und ihres etwas nervösen Wesens nicht sehr beliebt gewesen sein“. Die Ortsbewohner_innen nehmen ihr den steten Wechsel der Dienerschaft übel. Gelobt wird sie ob der „zärtlichen Liebe“ gegenüber ihrer Kinder, die sie „täglich ausführt“, badet und selbst schlafen legt. Und dass, sie der Tochter einer Veterinärratswitwe Gesangsunterricht erteilt.
Sibylle ist zum Leben einer begüterten einsamen Schlossfrau verdammt.
Verliebt in Meran
Im Herbst 1925 erkrankt Sibylle und der Hausarzt empfiehlt ihr einen Kuraufenthalt in Meran. Gemeinsam mit ihrem „besorgten Gatten“ reist sie nach Südtirol. Dort lernen sie den „jungen, charmanten“ (und angeblichen Großfürsten) Cyrill Constantin Orlow kennen. Ein Reporter beschreibt ihn als „interessanten Kopf, dessen Gesichtszüge (…) von sympathischem und offenen Ausdruck sind. Die Augen strahlen in lebhaftem Glanze und den Mund umspielt ein gewinnendes Lächeln“. Der angebliche russische Großfürst – eigentlich war er nur Freiherr - lebt seit 1923 bei seinem Onkel, dem Romanzier Kurt von Schloezer, in Meran.
Über das Schicksal seiner Eltern erzählt der 23jährige dem Ehepaar, dass die Bolschewiken sie ermordet hätten. An Cyrills Totenbett wird, der aus Nizza angereiste Onkel, Oberst von Gouriew hingegen sagen, dass Orlows Vater in Russland verschollen und seine Mutter mit einem Fürsten Gagarin in Deutschland verheiratet sei. Nur eine der vielen Ungereimtheiten des „Großfürsten“.
Stürmisch und romantisch verliebt seien er und Sibylle gewesen, sie hätten einander gleich gespürt sagt Cyrill wenige Tage vor seinem Tod dem Sonderberichterstatter. Die Arbeiter-Zeitung hingegen vermutet, dass er mit den Erzählungen vom Emigrantenleiden bei ihr einen tiefen Eindruck gemacht, der sich vermutlich zu Liebe gesteigert habe. Orlow sei ein Abenteurer, dem es bei seinem Verhältnis mit Frau Klinger, kaum um etwas Seelisches gegangen sei. Schließlich, so schreibt die Zeitung, sei es von jeher war vom russischen Fürsten zum Hochstapler nur ein Schritt gewesen.
Sibylle habe Cyrill von ihrer unglücklichen Ehe erzählt, von sehr häufigen Zwistigkeiten, die so tiefgehender Natur [waren], dass zu wiederholten Malen von einer Scheidung der Ehe gesprochen wurde. Der Baron selbst sei über die Natur Cyrills Gefühle für seine Gattin vollkommen unterrichtet [gewesen]. Klinger scheint zuerst nicht abgeneigt gewesen zu sein, „die ihm entfremdete Ehefrau freizugeben“. Stellt jedoch zur Bedingung, dass Orlow zuerst seine Finanzen in Ordnung bringen muss. Der Baron schenkte der Geschichte von der erwarteten großen Erbschaft und den reichen Verwandte in Deutschland keinen Glauben.
Andere Medien behaupten, dass das Paar dem Baron auch „zugemutet“ habe, „es durch Zuweisung einer standesgemäßen Rente zu versorgen.“ Die Linzer Tagespost schreibt hingegen, dass Sibylle einen Suizid versucht habe, weil ihr Mann nicht in die Scheidung einwilligen wollte. Erst danach soll Klinger zugestimmt haben.
Der Plan
Hugo Klinger reist ab, Sibylle bleibt bis zu Ostern 1926 in Meran. Cyrill zieht nach Wien und versucht mit dem Baron über die Scheidung zu verhandeln. Klinger will nichts mehr davon hören und wirft Orlow „liebenswürdig aber energisch hinaus“. Er benimmt sich „unerhört korrekt“; will seine Frau von dem „irrsinnigen Schritt“ abhalten und fühlt sich verpflichtet seine Frau vor dem „Habenichts Orlow“ zu schützen. Auch Sibylles Vater, Graf Spiegelfeld, wohnt im Schloß und setzt sich für die Aufrechterhaltung der Ehe ein. Er soll ein „recht konservativer alter Kavalier“ gewesen sein, „der den Eklat fürchtet, den eine Scheidung hervorgerufen hätte.“
Jeden Tag telefoniert Cyrill mit Sibylle. Sie sprechen über die Scheidung, beratschlagen wie der Baron überzeugt werden könnte, sie freizugeben. Sibylle selbst habe ihm geraten Hugo bei der Jagd zu besuchen, erzählt Cyrill im Zeitungsinterview. „Auf listige Art und Weise hat er von Frau Klinger erfahren, wo ihr Mann sich auf der Jagd befindet“, berichtet hingegen die Arbeiter-Zeitung.
Der Schusswechsel
Am 29. Mai reist Orlow nach Raabs und schreibt sich in einem Gasthof unter falschen Namen ein. Er behauptet um Aufsehen zu vermeiden, die Raabser_innen vermuten hingegen, er wolle „nur ungehindert die Vorbereitungen zum Attentat“ treffen.
Am Morgen des 30. Mai geht Orlow in den Wald, sucht den Baron. Erst am Abend entdeckt er den ihn in Begleitung eines Försters. Nur dreißig Schritte trennen Ehemann und Geliebten. Der Förster sieht Orlow, fragt ihn was er hier tue. Orlow lügt, behauptet ein Fotograf zu sein. Später wird der Förster aussagen, es schien ihm schon damals als die „unwahrscheinlichste Ausrede“, dass er zu so später Stunde noch Aufnahmen von der Gegend machen wolle.
Am 31. Mai reist Orlow wieder nach Wien zurück.
Am 2. Juni, so soll Sibylle Orlow am Telefon gesagt haben, würde ihr Mann wieder jagen gehen. Sie würde an der Säge auf ihren Geliebten warten und ihm dann den Weg zeigen. Gemeinsam mit dem ungarischen Hochschüler Emmerich Somoghi fährt Orlow in einem Autotaxi von Wien nach Raabs. Diesmal gibt er sich als Agent der Fordwerke aus.
Der Student wird später aussagen, dass „Frau Klinger vor dem Wald auf Orlow wartete, ihm ein geschlossenes Kuvert mit einem größeren Geldbetrag übergab und dann den Weg zum ihrem Ehemann zeigte“. Zeug_innen werden behaupten „sie hat sogar gelacht, als sie ihn kommen sah. Sie stieg in den Wagen und fuhr mit ihnen zum Jagdrevier. Nachdem sie ausgestiegen war, schlenderte sie langsam und versonnen zum Schloß zurück“.
Cyrill erzählt im Zeitungsinterview, dass er den Baron tatsächlich angetroffen und ihn um eine Unterredung gebeten hat, um die Frage der Ehescheidung ins Reine zu bringen. Der Baron forderte ihn auf dieses Gespräch auf dem Schloß zu führen. Doch am Weg dahin begann er ihn als ehrlos zu beschimpfen und zu beschuldigen, dass er ihm die Gattin abspenstig gemacht hat. Orlow konnte derartige Beschimpfungen nicht hinnehmen und als der Baron eine plötzliche Bewegung gegen ihn machte - als wolle er ihn angreifen – hob Orlow die Pistole und feuerte ohne zu zielen einen Schuß ab. Der Baron richtete den Jagdstutzen auf ihn und schoss, verletzte Orlow am rechten Oberarm schwer. Aus Angst floh Orlow aus dem Wald, hin zu seinem Auto.
Baron Klinger sagt beim Bezirksrichter aus: am Mittwoch in den frühen Abendstunden sah er im Dämmerschein eine Gestalt, die sich immer in seiner Nähe herumschlich. Er stellte den Fremden in dessen Hand er einen Revolver blitzen sah. Der Fremde verlangte von Klinger, dass dieser seine Frau freigebe, da er sie heiraten wolle. Diese Zumutung hat er entrüstet zurückgewiesen und schon im nächsten Augenblick schoss der Russe auf ihn. Er erwiderte den Schuss. Orlow wurde schwer verletzt, der Arm wurde ihm vollständig zerschmettert.
Hugo Klinger soll auch gesagt haben, dass es das erste Mal gewesen sei, dass er schlecht getroffen habe.
Sibylles Selbstmord
Orlow – so schreibt die Linzer Tages-Post – habe sich zum Auto zurückgeschleppt. Er soll einen „Triptic“ (Straßenkarte mit eingezeichneter Route) bei sich gehabt haben, um nach Znaim zu flüchten. Orlow wird das bestreiten. Andere Zeitungen berichten, dass sich der Chauffeur des Autotaxis geweigert habe in die Tschechoslowakei zu fahren. Trotz der Widerrede des Ungarn und Orlows fuhr er nach Raabs zurück.
Klinger bleibt auf der Straße liegen. Der Wirtschaftsbesitzersohn aus Kollmitzdörfl lädt ihn auf seinen Wagen und treibt die Pferde im Galopp in Richtung Raabs. „Die beiden Wagen trafen unterwegs aufeinander“ wird der Kutscher später erzählen. Klinger legt den Jagdstutzen an und Orlow zieht den Revolver. Sie starren einander an, der Wagen und das Taxi fahren weiter, keiner gibt einen Schuss ab.
Das Taxi hält vor dem Bezirksgericht. Die Neuigkeiten hatten die Raabser_innen schon erreicht und sie planen den Russen zu lynchen. Die Gendarmen retten Orlow vor der wütenden Menge, verhaften ihn und den Studenten, bringen sie zum Untersuchungsrichter. Nach dem Verhör wird Orlow in das 42 Kilometer entfernte Krankenhaus in Waidhofen an der Thaya gebracht.
Es kursieren Gerüchte das Orlow Klinger hinterrücks angeschossen habe. Orlow bestreitet das, behauptet er sei neben dem Baron gegangen, auch sei bei der Entfernung des Projektils eindeutig festgestellt worden, dass der Schuss von der Seite abgegeben worden ist. Klingers Hausarzt, der das Geschoss entfernt hatte, schreibt hingegen in seinem Gutachten: „Der Einschuss ist links drei Zentimeter von der Wirbelsäule entfernt in der Höhe des ersten Brustwirbels gelegen. Die Kugel überquerte die Wirbelsäule ohne sie jedoch zu verletzen und wurde in einer Tiefe von drei Zentimeter gefunden. Der Schuss muss seiner ganzen Lage nach von seitlich rückwärts aus abgegeben worden sein. Allerdings ist zu bemerken, dass der Waldweg, auf dem sich das Drama abspielte, ein Nebeneinandergehen von zwei Personen nicht gestattet, da er zu schmal ist.“
Der Bezirksrichter, ein Dr. Ortner „geht schneidig vor“, lässt der Frau Baronin durch den Revierinspektor ausrichten, sie habe in zehn Minuten zu erscheinen, sonst würde er sie zwangsweise vorführen lassen. Der Gastwirt im Ort wundert sich, dass der Richter nicht auf das Schloß geht, einen Kondulenzbesuch macht und bei der Gelegenheit auch das Verhör erledigt. Auch ihr Vater, Graf Spiegelfeld, will den Richter davon überzeugen, dass man das Gesetz auch verständnisvoller handhaben kann und er auf die verzweifelte Frau Rücksicht nehmen soll. Doch Dr. Ortner sagt: „vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich.“ Sibylle nützt einen unbewachten Augenblick und tötet sich durch einen Revolverschuss. Dr. Ortner unterzieht „den schwer verwundeten und stark fiebernden Gatten, den der Schmerz um seine tote Frau halb irrsinnig gemacht hatte, trotzdem einem zweistündigen scharfen Verhör.“
Andere Quellen sprechen davon, dass Frau Klinger am Donnerstag beim Bezirksgericht als Zeugin erscheinen hätte sollen. Die Arbeiter-Zeitung berichtet, dass sie erst Selbstmord begangen habe, nachdem sie von der Gendarmerie verhört worden war und sich in Widersprüche verwickelt habe.
Die Stadtbewohner_innen können sich einerseits nicht erklären, was die Baronin, die doch ihre Kinder abgöttisch liebte, in den Selbstmord getrieben habe. Anderseits wuchern Spekulationen, ob sie nicht doch an einem Mordkomplott beteiligt gewesen wäre, dass die vom Untersuchungsrichter an die Baronin gerichtete Vorladung keineswegs eine bloße Zeugenvorladung gewesen sei.
Sibylle wird in aller Ruhe am Samstag, den 5. Juni bestattet. Die Kirche hatte ihr ein stilles Begräbnis bewilligt. Am Schloß weht eine mächtige Trauerfahne. Die Kinder werden in die Obhut der Gutsnachbarin – Gräfin Vanderstraten – übergeben, die Verwandten der verstorbenen Baronin reisen ab.
Meuchelmord?
Am Tag ihres Begräbnisses entsendet das Landesgendarmiekommando Wien eine Kommission an den Tatort. Diese arbeitet „fieberhaft an der endgültigen Aufklärung des Falles“, verhört die Schlossbediensteten und Forstbeamte und durchsuchen die Zinnkammer. Die Ermittler erfahren, dass die Baronin Orlow schon während des Aufenthalts größer Geldsummen gegeben hatte, insgesamt sollen es über die Monate 275 Millionen Kronen gewesen sein.
Und: das Bild eines von langer Hand vorbereiteten Mordes verdichtete sich.
Bei den „genauen Verhören“ des gesamten Schlosspersonals durch die Kriminalbeamten kommt heraus, dass in der Nacht vor dem Anschlag Orlow heimlich von Frau Klinger ins Schloß gelassen worden ist. Sie führte ihn durch einen langen finsteren Gang in die Zinnkammer. In jene Kammer, wo 1521, vom damals noch unverbauten Felsen, Graf Puchheimer vom Geliebten seiner Frau gestoßen worden war. Die Kriminalbeamten durchsuchen die Kammer. Sie finden einen zerrissenen Brief, setzen ihn zusammen und lesen: „Liebe Mama! Bitte nimm Dich der Kinder an, ich bin in eine peinliche Lage geraten, es gibt für mich keinen Ausweg mehr, verzeihe mir! Hugo.“ Bei Orlow wird neben dem Geldkuvert noch ein weiterer Umschlag gefunden. Dieser enthält mehrere Briefe, geschrieben von Frauenhand und mit erpresserischem Inhalt. Es sollte so aussehen, als ob Klinger wegen maßloser Geldforderungen und Drohungen einer ehemaligen Geliebten Selbstmord begangen habe. Bei einer Hausdurchsuchung in Orlows Wiener Wohnung findet die Polizei das Konzept des scheinbaren Abschiedsbriefes. Die Mordabsicht scheint nachgewiesen zu sein, Klinger hätte am 2. Juni in seinem Bett ermordet werden sollen. Hätte man die Briefe bei dem toten Klinger gefunden, wären alle von seinem Selbstmord ausgegangen. Warum der Plan aufgegeben wurde und wieso Orlow stattdessen den Baron im Wald suchte, ist (noch) nicht bekannt.
Orlow erzählt dem Sonderkorrespondenten, er habe nie einen Mordanschlag auf Baron Klinger geplant. Sondern es sei ein letzter Versuch gewesen ihn zur Freigabe seiner Gattin zu überreden. Sie seien des Kämpfens müde gewesen, und hätten den „verzweifelten Entschluss“ gefasst, im Falle einer neuerlichen Ablehnung, nach Wien zu reisen und gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Auch die Abschiedsbriefe seien schon geschrieben gewesen.
Die Arbeiter-Zeitung schließt aus den Untersuchungsergebnissen: Es sei also kein bloßer Raufhandel mit Schußwechsel gewesen, sondern ein Mordversuch und dass die „unglückliche Frau“ wohl eine Mitwisserin gewesen sei, „der nach dem Verlauf der Dinge kaum noch etwas übrig blieb, als den Tod zu suchen.“
Orlow stirbt
Orlow wird im Spital in Waidhofen vom Primarius operiert. Er entfernt ein großes Stück Knochen. „Die Operation gelang vollkommen“ schreibt die Linzer Tages-Post. Am 11. Juni wird Orlow im Bezirksgericht in Waidhofen an der Thaya einvernommen: Er versichert nur wegen der Scheidung nach Raabs gekommen zu sein, gesteht aber auch, dass er bereit gewesen war die Entscheidung durch ein Duell zu treffen. Orlow sagt auch aus, dass er gesehen habe, dass Klinger nach dem Jagdstutzen gegriffen habe. Diese unwillkürliche Bewegung habe in ihm die Angst erweckt, niedergeknallt zu werden. Instinktiv will er seine Pistole gezogen und aus Notwehr geschossen haben.
Nach dem Verhör bekommt Orlow plötzlich hohes Fieber und Schüttelfrost, erkrankt an einer Lungen- und Rippenfellentzündung. Am 16. Juni fällt er „in Agonie aus der er nicht mehr erwacht“. Sein Onkel, Oberst von Gouriew, reist aus Nizza an. Zu spät, er kann mit Orlow nicht mehr sprechen. Der Fall bleibt unaufgeklärt.
Die steirische, sozialdemokratische Tageszeitung „Arbeiterwille“ schreibt: „Man hält es nicht für ausgeschlossen, dass Orlow in seinem Vorleben noch andere Delikte begangen hat, die in solcher Wiese aufgezäumt wurden, dass sie den Betroffenen und Geschädigten Schweigen auferlegten.“
Das Ende der Affäre
Alle Zeitungen berichten über den Skandal. Die Arbeiter-Zeitung wundert sich, wie eine Frau, die eine sorgfältige Erziehung genossen hatte und sehr gebildet war, in den „Bann eines jungen Mannes, dessen Geistigkeit kaum mehr auf dem Niveau der gewöhnlichsten Kinoromantik stehen dürfte, geraten konnte. Man könne daraus schließen, dass diese unglückliche Frau ein kranker Mensch war, der sich Willens- und Urteilsschwäche leicht hingab.“ Das „Interessante Blatt“ vermutet, dass Orlow ihre „nervöse Schwäche“ ausgenutzt habe. Die Reichspost berichtet, dass die „unglückselige Tat der Baronin Klinger in einem Zustande sinnsesverwirrender Aufregung erfolgt“ war. Kraus konstatierte in der Linzer Tages-Post, „Die Sensation hat die Tragödie erschlagen“. Alle reden von der sensationellen Affäre auf Schloß Raabs, aber kaum einer kümmert sich um das Geschick der unglücklichen Frau. Die Baronin, sei zu schwach gewesen die Beziehung mit dem halben Buben zu beenden, aber auch zu schwach weiterhin das freudlose kalte Leben mit ihrer heißen Sehnsucht im Herzen weiter zu ertragen. Jetzt sind sie beide tot.
Der ungarische Student wird Mitte Juni aus der Haft entlassen, die Vermutung, dass er in die Pläne Orlows eingeweiht war, konnte nicht bewiesen werden. Am 24. Juni wird Orlow am Friedhof von Waidhofen an der Thaya beerdigt. Ende Juli stellt das Bezirksgericht das Verfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen den Schlossherren ein. Er erholt sich von der Schussverletzung und baut seiner Frau an der Stelle, an der Orlow auf ihn geschossen hatte, ein Mausoleum.