Schachadel, Teil 1

Warum die Hölzlschieber den wesentlich exklusiveren Zirkel bilden als die österreichischen Adeligen, und warum Schachgroßmeister nur ganz selten obdachlos sind.

Nirgendwo auf der Welt ist die Titelsucht so ausgeprägt wie in Österreich, wird gerne behauptet. Tatsache ist, dass sich in Zeiten der Habsburger-Monarchie ein umfangreiches System von Ehrenbezeichnungen herausbildete, das zwei wesentliche Vorteile hatte: Es machte auch unterhalb des Adels die Standesunterschiede zwischen den Menschen deutlich. Und es entschädigte schlecht entlohnte Beamte staatssäckelschonend mit dem Statussymbol einer feschen Anrede. Als sich die Habsburger per Weltkrieg selbst in die politische Bedeutungslosigkeit katapultierten, schafften die Republikaner den Adel ab. Die bürgerlichen Titel aber blieben bestehen und geben heute noch manch seltsamem Kommerzialrat einen Grund, sich für leistungstragender zu halten als die Putzfrau vom U-Bahn-Häusl. Man muss natürlich differenzieren zwischen verliehenen und erarbeiteten Titeln. Andererseits: Wer ist nicht schon einem völlig vertrottelten Akademiker begegnet?

Auch in der Schachwelt sind die offiziellen Titel, die vom jeweiligen nationalen bzw. vom Weltschachverband FIDE verliehen werden, überaus begehrt. Der höchste ist der des Großmeisters (GM). Davon gibt es derzeit 1497 weltweit, darunter 33 Frauen, 7 Österreicher und – je nach Definition – 3 bis 5 Wiener. Danach kommen die Internationalen Meister (IM), von denen exakt 3439 den Globus bevölkern. In diesen illustren Kreis stößt gerade ein junges Wiener Talent vor, das trotz seiner Erfolge bodenständig und normal geblieben ist, was gerade unter Schachspielern leider keine Selbstverständlichkeit darstellt. Da der junge Mann der Sohn eines Klubkollegen ist und auch Teil meines Klubs war, fiebere ich mit ihm mit, und das ist auch der Grund, einmal über die großen Kaliber zu schreiben, die ich sonst nur vom Hörensagen kenne.

Lebenslänglich

Nach den GM und IM kommt nix mehr, zumindest nix Wichtiges. Über den niederen Schachadel machen wir uns erst im zweiten Teil dieser Kolumne lustig. Die wirklich bedeutenden Fragen zum Thema Titel lauten: Wie erlangt man sie, und was bringen sie einem? Der Nutzen ist schnell erklärt: GM und IM sind bei Turnieren meist von der Entrichtung des Nenngelds befreit und erhalten manchmal sogar noch freie Kost und Logis. Das liegt daran, dass die Veranstalter sich erhoffen, durch solche Prominenz mehr Teilnehmer anzulocken, die wiederum gerne einmal gegen so einen leibhaftigen Großmeister spielen möchten. Ein GM-Titel ist also im Idealfall eine lebenslängliche Versicherung gegen Obdachlosigkeit. Der Titel bleibt dem Spieler nämlich erhalten, egal, wie sehr er im Laufe der Jahrzehnte an Spielstärke abbaut. Die beste Chance, einen Großmeister zu schlagen, hat man daher, wenn selbiger bereits ins Methusalem-Alter eingetreten ist, weshalb alternde Großmeister – sogenannte „Schachlegenden“ – besonders hofiert werden.

Der Weg zur Erhebung in den Meisterstand ist kein einfacher: Es gilt, in mehreren Bewerben gegen Kontrahenten einer bestimmten Spielstärke ein vordefiniertes starkes Ergebnis zu erzielen. Darüberhinaus muss man zumindest einmal 2500 Elo-Punkte erreicht haben (IM: 2400), dann kann endlich der Antrag an die FIDE auf Verleihung des Titels gestellt werden. Dieser ist übrigens auch mit Kosten verbunden: 400 Euro kassiert die FIDE dafür, für die niedrigeren Titel entsprechend weniger. Im Grunde ist das nur recht und billig, schließlich wurde man früher auch nicht kostenlos nobilitiert.

Clowns statt Clans

Dem „echten“ Adel sind die Schachspieler natürlich haushoch überlegen. Moralisch, weil sie ihren König bedingungslos schützen, und am Brett noch niemals eine Adelsrevolte stattgefunden hat. Zahlenmäßig ebenfalls, denn sie bilden den weitaus exklusiveren Zirkel: Während es in Österreich (theoretisch) rund 18.000 Hoch- und nochmals doppelt so viele niedere Adelige geben soll, sind die registrierten Schachspieler nicht einmal halb so viele. Ihre Titel sind insofern wertvoller, als sie nicht vererbbar sind, also von Generation zu Generation stets aufs Neue erarbeitet werden müssten – wenn es dazu überhaupt Anlass gäbe, denn im Gegensatz zu Politik, Wirtschaft und Adel existieren im Schach praktisch keine Familiendynastien. Die Spieler sind einerseits unstete Geister, die eher auf der Flucht als feudal sesshaft sind, und zum anderen ist ihnen – nicht zuletzt aufgrund des eklatanten Frauenmangels – im Gegensatz zu den Blaublütigen die Inzucht nahezu unbekannt. Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht damit, dass der beste Schachspieler Österreichs und die zweitbeste Schachspielerin des Landes ein Paar sind…