Die Waldpension
„Ich tue alles, damit das Haus in Frauenhand bleibt,“ lacht Barbara Mück und meint damit die Waldpension in Gars am Kamp in Niederösterreich. Schon bevor sie die Pension im Jahr 1995 von ihrer Mutter Mathilde übernommen hat, betreute sie nicht nur Urlauber_innen aus aller Welt, sondern auch so manche prominente Person. Falco wohnte hier genauso wie der Extrembergsteiger Thomas Bubendorfer, der Schirennläufer Peter Wirnsberger und der Schriftsteller H.C. Artmann saß gerne im Garten. Eine Tradition, die schon mit ihrer Großmutter Gisela und deren Ehemann Isidor begonnen hatte. Der Sozialdemokrat, Nationalratsabgeordnete und Gründer des paramilitärischen „Republikanischer Schutzbundes“ Julius Deutsch, Giselas ehemalige Arbeitgeber, Friedrich Adler und auch die spätere Widerstandskämpferin Rosa Jochmann waren Gäste der Waldpension.
Gisela Laferl
Die Geschichte von Gisela Laferl begann in der Steiermark. Sie wuchs mit sechs Geschwistern auf, ging als Zimmermädchen in die Schweiz, wurde Köchin und schließlich Haushälterin Friedrich Adlers, dem Sohn des „Einers der Sozialdemokratie“ Victor Adler. Als Friedrich 1911 nach Wien ging, beleitete sie ihn und führe seinen Haushalt. Im gleichen Jahr war sie Gründungsmitglied und „Obmann“ des Vereins „Einigkeit – Verband der Hausgehilfinnen, Erzieherinnen, Heim- und Hausarbeiterinnen Österreichs.“ Unterstützt von der „ersten Politikerin“ Österreichs, Adelheid Popp, und gemeinsam mit Sozialdemokratinnen wie Antonie Alt, Gabriele Proft, Amalie Pölzer und Anna Ertl versuchte Gisela mit „seltener Intelligenz“ die Arbeitsbedingungen der „weißen Sklavinnen“ zu verbessern. Sie gaben eine Verbandszeitung heraus, trafen sich zweimal pro Monat mit den Mitgliedern und richteten eine Arbeitsvermittlung ein. Gisela reiste durch ganz Österreich um Ortsgruppen zu organisieren.
Gegenwind kam vom Verband christlicher Hausbediensteter, in dem auch die Dienstgeber_innen ein Mitspracherecht hatten. Der sozialdemokratische Verein lehrte den Hausgehilf_innen hingegen Selbstorganisation und setzte sich für geregelte Arbeitszeiten, Kranken-, Alters-, Invaliditäts- und Unfallversicherung für das Hauspersonal ein. Es sollte noch bis 1920 dauern, bis aus der 1810 verabschiedeten „vergilbten“ Dienstbotenordnung das moderne Hausgehilfengesetz wurde und es sollte bis 1921 dauern, bis der von Laferl verfasste erste Kollektivvertrag für Hausgehilf_innen in Kraft treten sollte. Erstmals hatten Hausgehilf_innen Anspruch auf Urlaub, Krankenversicherung und geregelte Arbeitszeiten. Dem Verband gelang es während der Ersten Republik mit der Unterstützung der Gemeinde Wien zwei Heime für stellenlose Hausgehilfinnen und eine Fortbildungsschule zu eröffnen. Der Verband wirkte so der zunehmenden Wohnungsnot unter den arbeitslos gewordenen Hausgehilfinnen entgegen und auch dass diese sich oft prostituieren mussten, um überleben zu können. Die Zahl der Haushalte, die sich Bedienstete leisten konnten, war massiv zurückgegangen. Vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigten in Wien 100.000 Haushalte Bedienstete, 1919 waren es nur mehr 52.000.
Im Wiener Gemeinderat
Gisela sprach im Frühjahr 1919 auf zahlreichen Wahlkampfveranstaltungen. Erstmals nicht für ihre männlichen sozialdemokratischen Genossen, sondern für sie sich selbst. Denn seit Dezember 1919 durften auch Frauen wählen. Eigens für „Dienstmädchen“ wurden Wahlversammlungen abgehalten, sie wurden aufgefordert nicht ihre christlich-sozialen Herren zu wählen, sondern die Vertreter_innen der Arbeiter_innenschaft, die Sozialdemokrat_innen. Gisela wurde als eine der 22 ersten Frauen in den Wiener Gemeinderat gewählt und saß gemeinsam mit Adelheid Popp u.a. im Bauausschuss. Sie setzte sich für den Ausbau der Rechte der Dienstbot_innen ein, etwa, dass auch sie die Fahrstühle in den Häusern benutzen dürfen und arbeitete selbst weiterhin als Haushälterin bei einer Wiener Familie.
Isidor Wozniczak
Am 27. März 1920 heiratete sie den um acht Jahre jüngeren Sozialdemokraten Isidor Wozniczak. 1923 legte Gisela ihr Mandat im Wiener Gemeinderat nieder. Schrieb aber weiterhin Artikel für die Frauenzeitung „Die Unzufriedene.“
Isidor war gelernter Werkzeug- und Orthopädiemechaniker, hatte die Naturfreunde-Bezirksgruppe Döbling aufgebaut, im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront gekämpft und war danach wieder nach Wien zurückgekehrt. Nach der Hochzeit zog das Ehepaar auf den väterlichen Besitz in Kamegg (Niederösterreich) und eröffnete einen Pension. Dies stieß in der Gemeinde auf wenig Gegenliebe. Gab es doch schon drei Gasthäuser und im Sommer vermieteten auch Bauern Zimmer. Wohl deshalb erhielt die Familie erst im Jahr 1933 die Konzession in ihrer Pension auch Alkohol ausschenken zu dürfen. Aber als Sozialdemokrat_in waren sie Teil der Abstinenzler-Bewegungen. Nach dem Motto der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei: „Der trinkende Arbeiter denkt nicht; der denkende Arbeiter trinkt nicht.“
Im Jahr 1934 pachtete das Ehepaar die Waldpension in Gars am Kamp und wurde das bevorzugte Reiseziel von Sozialdemokrat_innen. Der Sozialdemokrat und Führer des Republikanischen Schutzbundes Julius Deutsch verbrachte mit Emma Deutsch, seinem Bruder Leo 20 Jahre lang ihren Urlaub in Gars. Als Julius Deutsch nach den Februarkämpfen 1934 und dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und den Freien Gewerkschaften nach Brünn fliehen musste, wurde seine Bibliothek in Gars versteckt. Die Austrofaschisten enthoben Isidor all seiner Ämter als Hauptvertrauensmann und Leiter der sozialdemokratischen Organisation Gars-Thunau, als Gemeinderat in Kamegg und als Mitglied des Bezirksfürsorgerates und der Bezirksleitung der sozialdemokratischen Partei in Horn.
Trotz der zunehmenden Judenfeindlichkeit freuten sich die Wozniczaks über jüdische Gäste genauso wie über die in der Illegalität agierenden Sozialdemokrat_innen und Kommunist_innen. Sie ließen sich weder von den Austrofaschisten noch von den Nationalsozialisten diktieren, wer ihre Freunde und Gäste sein dürfen und wer nicht. Mehrmals wurde die Waldpension von den Austrofaschisten durchsucht und auch der Kartoffelkeller wurde aus geschaufelt. Vermuteten die Austrofaschisten doch dort ein Waffenlager der Revolutionären Sozialisten. Sie fanden jedoch nichts.
"Eldorado für Juden"
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 endete die Sommersaison in Gars. In der Waldpension wurde ein Feldlazarett der Deutschen Wehrmacht, danach ein „Volkswohlfahrtsheim“ für Mütter und Kinder eingerichtet, eine nationalsozialistische Vorschule, ein Schwesternheim und gegen Kriegsende diente sie als Unterkunft für deutsche Soldaten. Die Familie war währenddessen in ihrer Wohnung „kaserniert.“ Isidor wurde von den Nationalsozialisten mehrmals verhaftet, freigelassen und dienstverpflichtet in eine Artilleriefabrik zu arbeiten. Im März 1945 kehrte er schwer krank wieder einmal aus der Schutzhaft nach Gars zurück, wurde aber am 24. April 1945 wieder verhaftet. Am 2. Mai 1945 erteilte der Landrat Dr. Streb dem Staffelführer Franz Wischinka den Befehl Isidor zu erschießen. Wenig später wurde Isidor im Wald bei Mödring ermordet und notdürftig in der Erde verscharrt. Nach Kriegsende machte die SPÖ Druck die Leiche zu suchen, Wischinka führte sie im September 1946 hin und kurz darauf fand das Begräbnis unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Am Grab standen von der Familie nur mehr Gisela und ihre Tochter Mathilde, denn ihre beiden Söhne Walter und Gregor waren im Krieg gefallen. Der aus dem Exil zurück gekehrte Julius Deutsch hielt eine Rede.
Das Denkmal
Im Mai 1961 kehrte auch der ehemalige Urlaubsgast Rosa Jochmann wieder nach Gars am Kamp zurück, sie enthüllte einen Gedenkstein für Isidor, an jener Stelle, an der seine Leiche gefunden worden war. Im Jahr 1988 wurde die Villenstraße in Wozniczakgasse umbenannt und im Jahr 2010 erschien eine Gedenkschrift, verfasst von seinem Enkel Anton Mück. Ob die Täter jemals verurteilt worden waren, war bis heute noch nicht zu eruieren. Aber der Landrat Dr. Streb erschoss zuerst seine Familie und dann sich selbst. „Er wusste was er als Nationalsozialist getan hatte,“ sagt Anton Mück.
Zwischen 1950 und 1955 vertrat Gisela die Sozialdemokrat_innen im Garser Gemeinderat und seit 1949 war die Pension wieder im vollen Betrieb. Nach Giselas Tod im Jahr 1968 übernahm ihre Tochter Mathilde den Betrieb und 1995 deren Tochter Barbara. Immer wieder begrüßten sie alte jüdische Freund_innen aus den ersten Tagen der Waldpension und auch neue Gäste, denen das Gästehaus empfohlen worden war. Genauso wie Wiener_innen, die sich nach Kriegsende am Land statt essen wollten oder den Ausflug als Hamsterfahrt nutzten. Später kamen auch noch illustre Gäste wie Falco, H.C. Artmann und Sportler wie Thomas Bubendorfer oder Peter Wirnsberger dazu. Geblieben ist die Waldpension ein Kleinod, mit 15 Zimmern in einem Jugendstilgebäude.