Ein Leben am Rande der Wahrscheinlichkeit
Die Lügerei machte es dem Historiker Fritz Keller schwer die vielschichtige Biographie Winfried Müllers zu recherchieren. Die Geschichte eines Suchenden, eines enttäuschten Stalinisten der im Islam, im Kampf für die Unabhängigkeit Algeriens, in der Gründung von Nationalparks und Wintersportorten seinen Lebenssinn fand. Keller schreibt in seinem Buch „Ein Leben am Rande der Wahrscheinlichkeit“, der Text könne nur eine asymptotische Annäherung an die Wahrheit sein – so es diese überhaupt gäbe. Log doch Müller alias Si Mustapha Historiker_innen, Journalist_innen und Filmemacher_innen bewusst an.
Gesichert ist, dass Müllers Eltern ein Forstbeamte und eine Tanzschullehrerin war, er in Wiesbaden am 19. November 1926 zur Welt kam. Mit seiner Mutter zog er im September 1941 nach Götzens in Tirol und er begann in einem Geschäft zu arbeiten. Im Mai 1943 verhaftete die GESTAPO Müller. Der Vorwurf: er habe Feindsender gehört. Die Polizisten hätten dem 16jährigen mit Stiefeln ins Gesicht getreten, ihn drei Tage lang in einen Kasten gesperrt und ihn dann gezwungen vor einer hübschen Sekretärin nackt am Boden zu kriechen und zu schreien: „Ich stinke wie ein Schwein und ich bin ein Schwein,“ erzählt Müllers Tochter Rachida Müller in Lorenz Findeisens Film „Si Mustapha Müller“.
Müller, der Wehrmachtsdeserteur
Was nach seiner Verhaftung und Misshandlung passierte ist unklar: Müller schrieb später in seinem Lebenslauf für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), dass er in das KZ Innsbruck-Reichenau überstellt worden sei. Dafür konnte Keller keinen Beweis finden, entdeckte aber Dokumente, die belegen, dass Müller sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte. Müller widersetzte sich den Nazis, wurde in ein Strafbataillon versetzt, wegen Nichtausführung eines Befehls in Kasernen-Arrest genommen und nach seiner Entlassung mit einer Ausgangsbeschränkung belegt – die er ignorierte. Er wurde denunziert, wegen „Wehrkraftzersetzung“ angezeigt und am Weg zum Gericht soll ihm die Flucht gelungen sein - so behauptet Müller es zumindest in seinem SED-Lebenslauf. Er schaffte es bis nach Warschau, wurde von der Roten Armee aufgegriffen, verhört und schließlich dem von den Sowjets unterstützten, antifaschistischen Nationalkomitee Freies Deutschland übergeben. Einer Gruppe von Kommunisten und ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die die Schlacht von Stalingrad Anfang 1943 überlebt hatten. Müller verhalf nun desertierten Wehrmachtsoldaten zur Flucht.
Müller, der "stalinistische Piefke"
Nach Kriegsende gab er sich einen neuen Vornamen und nannte sich von nun an Mischa, war glühender Stalinist, absolvierte die Antifa-Zentralschule der Roten Armee, betreute die Rückführung österreichischer Kriegsgefangener und zog wieder nach Tirol. Doch der „stalinistische Piefke“ war nicht willkommen. Also übersiedelte er 1947 ins deutsche Klein-Machnow in der sowjetische Besatzungszone (ab 1949 DDR), besuchte die Parteihochschule „Karl Marx“- jetzt unter dem Decknamen „Winfried Mauser“. Seine Lehrer stellten ihm kein gutes Zeugnis aus. Sie schrieben, er habe eine „Neigung zur Überheblichkeit“ und „westlich sektiererische Tendenzen“. Trotzdem schloss er die Ausbildung 1949 mit der Lehrbefugnis für höhere Schulen ab und wurde im kommunistischen DDR-Parteiapparat „Instrukteur im Landesmaßstab“. Man schien ihm jedoch nicht zu trauen.
Müller, der CIA-Agent
Müller behauptete 1949 von der Stasi verhaftet worden zu sein. Sie warfen ihm „Titoismus“ vor – einer zu Lebzeiten Stalins als feindlich angesehene Ideologie des realsozialistischen Jugoslawiens. Zu dieser Behauptung fand der Historiker und Autor Keller in den Stasi-Akten keine Beweise, dafür steht dort zu lesen, dass Müller 1948 von den Amerikanern - ob des Verdachts russischer Agent zu sein - festgenommen worden und für den CIA angeworben worden sei. Später kamen neue Akten und neue Anschuldigungen dazu. Müller soll eine Mitgliederliste der DDR-Organisation „Freie Deutsche Jugend“ an die Amerikaner übergeben haben, ein Strichjunge sein und sich bei der Fremdenlegion gemeldet haben. Laut der kommunistischen Parteidoktrin alles schwere Verbrechen und Müller wurde am 9. Jänner 1951 von der SED ausgeschlossen. Er ging nach Westdeutschland und versuchte bei verschiedenen kommunistischen Organisationen anzudocken.
Er verdiente seinen mageren Lebensunterhalt mit Hausierhandel, Honorare für Zeitungsartikel, als Lektor für eine „Agentenschule“ und die Jewish Agency bezahlte ihn für die Fluchthilfe von Jüdinnen und Juden aus der damaligen, zunehmend antisemitisch agierenden Tschechoslowakei.
Im Jahr 1954 tauchte Müller in einer Westberliner Villa auf. Einem Treffpunkt französischer, US-amerikanischer, britischer und bundesdeutscher Geheimagenten. Die Amerikaner übertrugen Müller einen typischen Kalten-Krieg-Spionageauftrag. Die Pariser Geheimpolizei besorgte ihm einen gut dotierten Tarnjob als Pressekorrespondent. In Wirklichkeit sollte er aber in Paris herausfinden wie die französische Regierungspolitik den Forderungen der Unabhängigkeit ihrer algerischen Kolonie gegenüberstand. Der Hintergrund des Auftrages war es, zu erfahren, ob die US-Amerikaner im nordafrikanischen Land Fuß fassen und mit den Freiheitskämpfern zusammen arbeiten könnten.
Müller, der Held im algerischen Befreiungskampf
Müller nahm in Paris Kontakt zu der algerischen Partei „Front de Liberation National“ (FLN) auf. Deren Ziel war es als politische Vertretung der nichteuropäischen Bevölkerung mittels bewaffneten Kampfes die Unabhängigkeit Algeriens zu erreichen und eine sozialistische, demokratische und auf islamischen Prinzipien basierende Republik zu gründen.
Am 1. November 1954 begann der Algerienkrieg, der Kampf für die Unabhängigkeit Algeriens von der Kolonialmacht Frankreich. Diese setzte in Algerien Soldaten der Fremdenlegion ein, darunter auch viele Deutsche, einige Spanier, Italiener, Ungarn und auch Österreicher. Und Müller wechselte die Seiten. Obwohl er im Sold der Franzosen stand, traf er sich mit Legionären in Pariser Spelunken und Bordellen und versuchte sie zur Fahnenflucht zu überreden – mit dem Ziel war die französischen Truppen in Algerien zu schwächen. Außerdem transportiert er für den militärischen Arm der FLN Waffen und dies führte schließlich wiederum zu seiner Ausweisung aus Frankreich. Müller reiste in das seit 1956 unabhängige Marokko.
Die von dort aus agierende algerische Kampforganisation konnte anfangs wenig mit ihm anfangen. Schließlich wurde er Übersetzer - denn unter den gefangen genommen Fremdenlegionären waren viele Deutsche. Außerdem entwickelte er die schon in Paris entstandene Idee, Fremdenlegionäre zur Desertion zu überreden, weiter. Und er organisierte einen systematischen Rückführungsdienstes von fahnenflüchtigen Fremdenlegionären in deren Heimatländer. Müller und sein Team schleusten Flugblätter in die Legions-Kasernen ein, verpflichteten algerische Familien Fahnenflüchtigen zu helfen, schalteten Heirats- und Sexannoncen in Zeitschriften. Statt Kontakte zu Frauen zwecks „möglicher Heirat“ gab es jedoch die Aufforderung von der Fremdenlegion zu desertieren.
Die Aktion funktionierte. Aus den beiden in Marokko stationierten Regimentern verschwanden innerhalb von drei Monaten die Hälfte der Legionäre. Ähnliche Erfolge gab es in Algerien. Über abenteuerliche Wege wurden die Ex-Fremdenlegionäre in ihre Heimatländer gebracht. Mehr als 3.726 davon 2.787 Deutsche sollen es insgesamt gewesen sein.
Diese Schwächung der der französischen Armee rief jedoch die Auslandsabteilung des französischen Geheimdienstes - die „Rote Hand“ - auf den Plan. Deren Aufgabe war es Zielpersonen zu liquidieren, die den französischen Interessen im Wege standen. Eine davon war Müller. Sie jagten ihn, durchsiebten sein Auto mit Kugeln oder schickten ihm ein Päckchen mit Plastiksprengstoff und Nägeln. Er überlebte.
Müller, der Nationalparkgründer
Aus dem glühenden Stalinisten Müller wurde ein gläubiger Moslem. Er habe, so schrieb er, zum ersten Mal seit dem Scheitern der kommunistischen Illusionen ein Ziel. Der Islam sei für ihn eine Weltanschauung und der Kampf eine erhabene Handlung, die unumgänglich sei. Müller trat zum Islam über und erhielt den den Namen „Si Mustapha“.
Am 19. März 1962 endete der Krieg mit der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich. Der Rückführungsdienst wurde aufgelöst. Si Mustapha wurde Mitarbeiter in verschiedenen algerischen Ministerien, initiierte in den 1970er Jahren die Gründung des algerischen Skiverbandes und gründete Nationalparks. Er zog aus Algier weg, in ein kleines Haus in den Bergen. Am 9. Oktober 1993 starb er an einem Herzinfarkt.
Keller hat sich in seinem Buch der Wahrheit angenähert, beinahe jedes Wort mit Quellenangaben versehen, doch ist es die tatsächlich die ganze Geschichte?
Fritz Keller
Ein Leben am Rande der Wahrscheinlichkeit
mandelbaum Verlag, 2017
15,00 Euro