Ruth Binder legt die Marlboro weg, steht auf, verlässt ihr Eck vor der Garderobe, gleich neben dem Eingang zum Klo. Auf der Tür klebt ein Plakat und kündigt die dreitägige Feier zum 100-jährigen Bestehen des Traditionscafé Industrie Ende August an. Ruth geht zu Walter, denn er sitzt vor einem leeren Bierglas. Ob er noch ein Bier möchte, fragt sie ihn. Walter will. Seit 30 Jahren kommt er in das Traditionscafé.
Von den zwei lesbischen Schwedinnen, die das das Lokal betrieben haben sollen und der Wirtin Maria kennt er nur Geschichten. Maria war bis 1977 Wirtin des Industrie. Sie wäre es wohl auch noch länger gewesen, hätte nicht ihr Lebensgefährte, „das Häferl“, sie aus Eifersucht umbringen wollen. Er schoss auf sie, sie überlebte noch eine Woche lang im Krankenhaus, angeschlossen an Schläuche und Maschinen. Da war ihr Mörder schon tot. Er hatte sich nach der Tat selbst gerichtet.
Die Kellnerin, Frau Elfi, übernahm das Lokal 1978 und führte es bis 2011. Dann starb auch sie. Eines natürlichen Todes. Ihre Tochter Ruth übernahm das Lokal. „Es waren fast nur bessere Branntweiner da“, sagt sie. (Anmerkung: Branntweiner sind eigentlich Branntweinschenken, im Wienerischen: Menschen, die täglich viel billigen, starken Alkohol trinken).
'Wird scho wurscht sein'
„Bei meiner Mutter konnten die Stammgäste noch anschreiben lassen. In einem kleinen roten Buch. Nicht alle haben gezahlt. Gelebt hat Mama vom Glücksspielautomaten im Eck“, sagt Ruth Binder. Den Automaten gibt es nicht mehr, die Branntweiner auch nicht und das Lokal ist geschrumpft. „Seit der Raucherverordnung“, sagt Ruth und zuckt mit den Schultern. Man habe eine Wand eingezogen, um die 50 Quadratmeter Lokalfläche nicht zu überschreiten und so der Stammkundschaft das Rauchen weiterhin zu erlauben.
Den Umbauarbeiten ist der Stammplatz des Autors Ernst Hinterberger zum Opfer gefallen. Fast jeden Tag sei er gekommen und habe Kaffee getrunken, seinen Bleistift und den Notizblock auf den Tisch gelegt.
„Er hat nicht viel gesagt. Seine Antworten waren knapp. Kurz vor seinem Tod, er kam schon mit dem Sauerstoffwagerl, saß er mit einer Zigarette da. Auf die Frage, warum er raucht, antwortete er 'Wird scho wurscht sein'. Er hat nur beobachtet. Hier hat er einige Charaktere für seine Geschichten gesehen“. Einige der Figuren, der Fernsehserie Kaisermühlen Blues kennt Ruth Binder aus dem „wahren“ Leben. „Die Serien-Hausmeisterin Turecek ist vom Wesen her 1:1 die Hausmeisterin aus dem Nachbarbau, nur schaut sie anders aus.“
Der „Fünfer“
Die Serienfigur des leidenschaftlichen Tramwayfahrers „Fünfer“ hatte zwei Menschen zum Vorbild. „Obwohl einer eigentlich der 'Sechser' hieß“. Ein behinderter Bub, der gerne mit der Straßenbahn, dem Sechser, die Reinprechtsdorferstraße entlang gefahren ist. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 verschwand der Sechser. Von ihm sind nur Gerüchte übrig geblieben, seine Mutter sei mit ihm „in die Gas gegangen“. Andere sagen, „weil er ein „bisserl ein Tschopperl war und die Nazis geschwind waren mit der Vernichtung von „unwertem“ Leben, haben sie ihn verschleppt.“ Das sei der Original-Fünfer gewesen.
„Wir haben auch einen 'Franzi' gehabt, der dem Fünfer im Kaisermühlen Blues sehr ähnlich ist. Er fuhr auch gerne mit der Tramway. Unser Franzi glich dem Fünfer vom geistigen Niveau und von der Statur und war genauso liebenswürdig“. Der Margaretner Franzi kam fast täglich auf einen Kakao vorbei, nannte die Kaffeehausbetreiberinnen Mama Elfi und Mama Ruth und wollte ihnen Gummistiefel verkaufen.
Zweitwohnsitz
Daheim ist hier auch „Da brohfeZZa“, Mundharmonikaspieler und Max-Weiler-Schüler Walter Kortanek. Er malte das imposante Wandgemälde im Industrie. Das Bild entstand aus einer Laune der Frau Elfi. Sie wollte eines. „Ich erfand eine fiktive Kaffeerösterei und malte sie 2002“, sagt Walter. Er kommt seit 30 Jahren fast täglich ins Kaffeehaus. „Das Industrie ist mein Wohnzimmer, eigentlich wohne ich ja gegenüber. Aber ich rauche in meiner Wohnung nicht, also komm ich hier her.“
Ernst Hinterberger schrieb über sein Stammlokal: „Genaugenommen müssert ich eigentlich einen Meldezettel für das Industrie ausfüllen und meine Einzelraumwohnung nur als Zweitwohnsitz angeben, so daheim bin ich da herinnen.
Sanfter Rausschmiss
Als Ruth Binder das Lokal übernahm, waren die „besseren Branntweiner“ noch da. „Von Kultur war noch keine Rede. Es trafen sich Schach- und Kartenspieler und der Hinterberger trank Kaffee“, sagt Walter.
„Ich nenne es sanften Rausschmiss“, sagt Ruth. Sie stellte ihnen Gläsern zur Bierflasche, legte Tischtücher auf und engagierte den Margaretner Autor Harald Pesata als „Kulturmanager“. Er kümmert sich um bis zu vier Veranstaltungen pro Woche: Konzerte, Karaoke, Poetry Slam, Kabarett, Open Mic nights und Lesungen. Letztere haben einen großen Vorteil für die literaturbegeisterte Chefin: man liest ihr Bücher vor.
Durch ein Buch lernte sie auch Harald Pesata kennen. Er präsentierte 2011 sein Buch „Für Garderobe keine Haftung! Wiener Beislgeschichten und Anekdoten“ im Industrie. Jetzt kümmert er sich um die bevorstehende 100-Jahre-Feier Ende August. Er hat sich umgehört, wollte die Geschichte des Industrie erkunden und erfuhr von einem alten Bezirksrat, dass im 34er Jahr, im Bürgerkrieg, die Festgenommenen vom Reumannhof hierher gebracht worden seien. Man habe sie verhört und fürchterlich geschlagen. Und im 38er-Jahr, nach dem Anschluss, soll die Gestapo im Kaffeehaus einen Gast erschossen haben.
Traditionscafe Industrie
Margaretengürtel 120
1050 Wien
Tel.: 0676 55 46 146
Web: cafe-industrie.at
Öffnungszeiten: Mo. bis Sa. 08:00 - 02:00 Uhr - Feiertags geöffnet
Inzwischen ist es friedlich im Traditionscafé Industrie. Die neuen Stammgäste, „die Doktoren, Hackler und Bohemiens“ hören nur noch selten von Ermordeten und wenn, dann kommen sie in Romanen und Liedertexten vor.