Alfred Woschitz
Alfred Woschitz, by Marliese Mendel
Vom Brot im Meer

Das unglaubliche Leben der Elsie Slonim

Dienstag, 15. Mai 2018
„Alles ist wahr. Alles, was ich schreibe und dir erzähle ist wahr, alles!“ sagte Elsie Slonim zu Alfred Woschitz und gab ihm ein Bündel Papier. Sie, die hundertjährige Jüdin, die als einzige Zivilperson im militärischen Sperrgebiet auf Zypern lebt und er, der weitgereiste „bibliophile Bautechniker“ aus Kärnten begannen die unglaubliche Geschichte von Elsie und ihrer Familie aufzuschreiben.

Elsie Slonims hundert Jahre begannen 1917 in New York. Mit 18 Monaten übersiedelte sie mit ihrer Familie nach Jugoslawien und später nach Österreich. Sie flüchtete zweimal vor den Nationalsozialisten, baute sich mit ihrem Mann, den Palästinenser David Slonim ein Leben in Zypern auf, nur um 1974 vor dem Nichts zu stehen. Sie verloren ihre Ländereien. Ihr Haus lag nun im türkischen Militärsperrgebiet. Dort lebt Elsie heute noch und dort schrieb sie gemeinsam mit Woschitz ihre Lebensgeschichte auf.

Damit Woschitz im Haus übernachten durfte, musste Elsie ein Verwandschaftverhältnis mit ihrem Besucher nachweisen. „Einer ihrer Großväter war aus Slowenien und dessen Nachname Lefkovitz endete wie meiner auf itz (Woschitz) und daraus hat sie für die türkischen Behörden ein Verwandschaftsverhältnis gebastelt,“ erzählt Woschitz. Er wurde zum Großneffen, zum letzten lebenden Verwandten. Sechsmal flog Woschitz nach Zypern, saß mit Elsie auf der Terrasse und wartete bei einem gemütlichen Frühstück auf den Ruf des Muezzins – dann begannen sie zu schreiben.

USA-Jugoslawien-Österreich-USA

Geschichten vom Vater, dem ungarischen Juden Alexander Kalmar, der 1911 in die USA ausgewandert war, um den amerikanischen Traum zu suchen und in einer Textilfabrik zu finden. Von der Geburt ihrer Schwester Stella und Elsies ersten 18 Monaten und auch der Rückkehr auf das Familiengut in Sivac (heute Serbien). Als die Familie ankam, waren vom Besitz nur mehr Ruinen übrig - geplündert, zerstört von „Horden der Kun-Bewegung.“ Und, das Gut lag nicht mehr in Ungarn, sondern im neu gegründeten Staat Jugoslawien. Schließlich zog die Familie nach Baden bei Wien, Alexander eröffnete zuerst eine Textilfabrik in Wien und dann eine in Temeswar (Rumänien).

Elsie besuchte die Schule in Baden, studierte in Wien, heiratete und ließ sich wieder scheiden und führt bis Hitlers Einmarsch ein gutbürgerliches Leben. 1939 buchte Alexander für Elsie und ihre Schwester Stella eine Reise in die USA, um sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu schützen. Sie konnten ob ihres amerikanischen Passes relativ problemlos aus dem „Dritten Reich“ ausreisen. Am Schiff lernte Elsie den russischstämmigen Palästinenser David Slonim kennen, einen jüdischen Plantagenbesitzer aus Zypern. Er war am Weg nach Kalifornien um Zitrusfruchtplantagen zu besichtigen, sie war am Weg in ein neues Leben in Chicago. Zum Abschied gab sie ihm eine falsche Adresse, glaubte sie doch, dass er sie sowieso nie kontaktieren würde. Er fand sie mit Hilfe der Polizei und fünf Tage später heirateten sie gegen den Willen ihrer Familie.

Zypern-Israel

Im August 1939 kam das Paar in der englischen Kronkolonie Zypern an. Kurz darauf begann der Zweite Weltkrieg. Die britische Armee verminte die Gewässer um die Insel, der Schiffsverkehr wurde eingestellt. Elsie war verzweifelt, ihr Mann beachtete sie kaum, der Krieg erschwerte das Leben, ihre Familie war vor den Nationalsozialisten auf der Flucht. Sie versuchte sich das Leben zu nehmen. Eine Tat, die in England mit mehreren Monaten Gefängnis bestraft wurde. Sie überlebte, die Tat wurde verschwiegen, die Wärme kehrte in die Ehe zurück und sie wurde in den Kreis der „englischen Damen“ auf Zypern aufgenommen. Sie begann ihr Haus und ihr Leben einzurichten, wurde dabei aber jäh vom Befehl der Briten im Jahr 1941 unterbrochen: Alle Flüchtlinge, oder die von der Gefahr der Verfolgung durch die Nationalsozialisten Bedrohten werden von Zypern nach Südafrika evakuiert. Elsie und ihr Mann blieben jedoch in Tel Aviv. Dort lebten bereits ihre aus Rumänien geflüchteten Eltern und ihre Schwester Stella. Elsie brachte während eines deutschen Luftangriffs ihren Sohn Reuven auf die Welt.

Ende Mai 1945 übersiedelte die Familie wieder nach Zypern, in eine Wohnung direkt auf der Plantage. Die guten Jahre begannen, sie besuchte Theateraufführungen, Konzerte und Ausstellungen, ritt über die Insel, ging auf Partys und feierte den Geburtstag der englischen Königin. Aber ihr Leben nahm wieder eine unerwartete Wende. Der Staat Israel war am 14. Mai 1948 ausgerufen worden und zwei Jahre später packte Elsie wieder die Koffer. Ihr Mann wollte beim Aufbau des neuen Staates als Landwirtschaftsexperte mithelfen. Mit ihrer 1946 geborenen Tochter Daphne, dem Sohn und ihrem Mann zog sie in einen Vorort von Tel Aviv – in ein halbfertiges Haus. Es fehlten noch Fenster und Installationen.

In ihrer Nachbarschaft lebten jüdische Flüchtlinge und sie trafen einen Vetter wieder. Er und seine Frau hatten das Konzentrationslager überlebt, ihre beiden Kinder aber nicht. Sie waren zu medizinischen Experimenten missbraucht worden. Von dem Vetter erfuhren sie über das Schicksal ihrer Verwandten: Das Baby Irene war von einem Soldaten gegen die Wand geschleudert worden, solange bis es tot war, Großmutter Ethel war erschossen worden und Tante Helen hatte absichtlich mit Typhuserregern verseuchtes Wasser getrunken und war daran gestorben.

Zypern

Elsie und ihre Familie kehrten schließlich nach Zypern zurück. Sie bauten ein Haus am Stadtrand von Nikosia, nahe dem „Englischen Klub“, Restaurants und einem Golfplatz. Sie wünschte sich eine Klimaanlage und Zentralheizung, David einen Luftschutzkeller. Das mondäne Leben begann wieder und die Plantagen florierte. Bis im Jahr 1974, während des Zypernkonflikts, die Insel zwischen Griechenland und der Türkei aufgeteilt wurde. Das Haus der Slonims lag nun im türkischen Militärsperrgebiet und sie verloren ihre Plantagen. Drei Wochen lang harrte die Familie im Luftschutzkeller aus.

Am 24. August 1974 traute sich die Familie zurück ins Haus, nur um zwei Männern gegenüber zu stehen. Einem türkischen Offizier und dem Zuständigen für die Absiedlung aus dem Sperrgebiet. Zweiterer erkannte David wieder. Ihn, der seinem Vater nach einem Arbeitsunfall geholfen, die Familie unterstützt und den Kindern Ausbildungen ermöglicht hatte. Der Offizier sagte: „Das sind gute Menschen, die dürfen bleiben.“ Aber sie waren nun die einzige Familie, die im Sperrgebiet bleiben durfte. 1975 waren die Ersparnisse der Slonims aufgebraucht.

Zypern-USA-Zypern

Elsie beschloss wieder in die USA zu gehen, um dort zu arbeiten. Mit 58 Jahren wurde sie zuerst Dienstmädchen in Buffalo, dann Hausansgestellte und schließlich für 16 Jahre Gesellschafterin eines in die USA emigrierten Deutschen namens Curt. Mit ihm reiste sie durch Europa, besuchte Konzerte und Theateraufführungen. Das verdiente Geld schickte sie nach Zypern. Nach dem Tod Curts war sie 80 Jahre alt, ohne Einkommen und alleine in New York. Sie verkaufte ihre wenigen Habseligkeiten um zu überleben bis sie die kleine Erbschaft von Curt an sie überwiesen wurde.

Sie kehrte nach Zypern zurück, zu ihrem inzwischen 95jährigen Ehemann. Er war krank. Sie pflegte ihn, gab fast das ganze Geld dafür aus. Nach Davids Tod blieb ihr noch etwas übrig und sie investierte es bei den Lehman Brothers. Ihr Ziel war es von den Zinsen ein bescheidenes Leben führen zu können. Diese Hoffnung zerrann mit der Insolvenz der Investmentbank im September 2008. Wieder stand Elsie vor dem Nichts. Sie lebte alleine in einem Sperrgebiet ohne Einkommen. Sie begann ihren Hausrat zu verkaufen, brachte ihre Hunde unter und beschloss ihr Leben zu beenden – als ein Wunder geschah. Ihre türkische Haushaltshilfe versorgte sie mit Lebensmitteln, ein Bekannter aus der Schweiz lieh ihr Geld und half ihr beim Antrag auf Altersversorgung. Und uu ihrem 100. Geburtstag erschien im Verlagshaus Hernals ihre Biographie „Vom Brot im Meer.“

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