Jörg Gottschalk sagt, er kommt gleich. Er nimmt fünf Flaschen Bier, geht zur Hausmeisterin und tauscht sie gegen fünf Zigaretten ein. Dann setzt er sich auf die Bank bei einer bepflanzten Baumscheibe vor seinem Atelier in Ottakring. Macht ein Bier auf, zündet eine Zigarette an und erzählt, wie er auf die Idee kam. die kleinen weißen Laschen auf Milchverpackungen zu sammeln und in Kunstobjekte zu verwandeln.
Er war 15 Jahre alt, als die Mauer fiel. Er lebte in Dresden, lernte den Zimmermannsberuf. Später entschied er sich, Architekt zu werden. Bevor er 2007 nach Wien zog, half er einem Freund, das Lokal Terrasse am Bischofsplatz in Dresden zu eröffnen. Dort kellnerte er und steckte sich aus Spaß während der Arbeit Laschen der Milchverpackungen an die Finger. Er dachte sich weiter nichts dabei, doch Leute fragten ihn immer wieder: Ob er Künstler sei, was es damit auf sich habe. Anfangs hatte er keine Antwort darauf.
Cindy die "Ostkirsche"
2007 zog er nach Wien, fand eine Wohnung in Ottakring und Arbeit in einem Architekturbüro. In der Kaffeeküche des Büros sah er die großen Laschen der NÖM-Milchverpackungen. „Ich überredete die Assistentin, die Laschen zu sammeln.“ Als Dank für ihren Sammeleifer beklebte er einen Milchring mit rosa Kunstfell und schenkte ihn ihr. Eine eher spontane Idee. Er beschloss, dass der Ring einen Namen braucht und nannte ihn Cindy. Nach einer „Ostkirsche“, er imaginierte Cindy mit pinkfarbenen Strähnen im Haar, durchgeknallt, eine, die sich nichts scheißt.
Die Büroassistentin trug „Cindy“ und Leute sprachen sie auf das fluffige Ding am Finger an. Sie hatte viele nette Begegnungen. „Nach einem halben Jahr, sagte sie: ‚du musst damit echt was machen.‘“
Jörg hatte noch kein Konzept, keine generalstabsmäßig geplante Theorie. „Erst später entwickelte ich ein Konzept: Akkumulation und Transformation durch Kommunikation. Der Milchring kommt im Bewusstsein der Leute nicht vor, sie reißen die Laschen ab und werfen sie weg. Nur wenn die Lasche reißt, ärgert man sich, sonst widmet man sich dem Ding nicht. „Durch die Kommunikation, das Erzählen über den „Milchring“, wenn man aufhört die Laschen wegzuwerfen, sie ver- und bearbeitet, transformiert man Müll zu Kunst.“ Jeder einzelne Milchring wird von einer Person gesammelt. Jeder hinterlässt damit eine materielle Kommunikation: „Die Menschen die Milchringe sammeln, müssen vom Projekt gehört haben. Jeder der Milchringe den sie beisteuern, bezeugt umgekehrt wieder die Existens dieser einzelnen Person, faszinierend, nicht wahr?“ Für sein Konzept gibt es keine Grenzen, deshalb entwickelte er die Idee des „Universums des sozialen Plastiks“: Das Universum ist unendlich und somit auch das Konzept.
Sybille liest Kant
Die erste Serie entstand 2008, alle Ringe trugen Namen und Beschreibungen, „damit die Idee greifbarer ist“: Rainer liebt Brahms, Petra wickelt Locken, Sybille liest Kant, Desiree ist abgehauen, Dagmar liebt Haustiere. „Es gibt schon Bezüge zu echten Menschen, Dagmar gibt es wirklich und sie hat viele Haustiere.“ Verkaufen will er die Kunstobjekte nicht. „Als Produkt funktioniert es schlecht, sie gehen schnell kaputt, die Laschen reißen bald ab. „Lieber verschenke ich sie an die Menschen die sammeln. Ohne die gebe es das Milchringuniversum nicht“
Nach der ersten Präsentation im Violet says beschloss Gottschalk, sein Projekt zu professionalisieren. Er lud 2009 ins Atelier von Cloed Baumgartner zum ersten Salon Milchring und präsentierte die Serie „Lila“. Noch im gleichen Jahr folgte „PomPom“. Außerdem erstellte er, mit Hilfe eines alten Schulfreundes eine Webseite: „Ab dann war es offiziell“.
In Kooperation mit dem Label Junikind zeigte er, dass sie sich die Milchringe ebenfalls für Accessoires wie Kopfschmuck, Armband, Kette und Ohrringe eignen. Er kreierte aus Milchringen glitzernde Discopömmelringe und elegante Manschettenknöpfe. Zusammen mit Gabarage entstand das erste Milchringkleid.
Die Idee der Transformation wurde weitergesponnen: „Man kann Material und Massstab wechseln.“
Er ließ Plastikring aus Silber herstellen. Es gibt den Maßstabssprung, der Milchring ist immer noch weiß und aus Plastik, aber er ist riesig groß. 45cm Durchmesser. Oder Stefan Kögl fotografiert weggeworfene Milchringe auf der Straße und veröffentlicht sie monatlich auf der Facebookseite: Neigungsgruppe Milchring.
Soziales Plastik
Jörg stellte 2012 im Cluster für Kreative im 356-Fox-House aus. Die Ausstellung war für ihn die Initialzündung, das Konzept weiter zu entwickeln. „Die Einladung zur Ausstellung durch die Kuratorin Tess Marja Werner und die konzeptionelle Auseinandersetzung mit Enrique Guitart haben das Projekt nachhaltig positiv beeinflusst.“
Im Jahr 2013 folgte die zweite Ausstellung im „AU“. Dort waren die Besucher eingeladen direkt an einer Sozialen Plastik mitzuarbeiten.
„Jeder Milchring zählt“, deshalb spricht Jörg Gastronomen an und bittet sie, die Laschen zu horten. Für die zahlreichen privaten Sammler hat die die Verpackungsdesignerin Gerlinde Gruber sogar eine schöne Box entworfen.
Vor drei Jahren zählten die Milchringenthusiasten 26.853 Ringe. Von Tribuswinkel über Potsdam, Linz, Wien bis Berlin sammeln Gastronomen Milchringe. Der Küchenchef der Mole West in Neusiedl administriert die Sammlung im Betrieb: Jeder neue Mitarbeiter wird ins Milchringsammeln eingeführt.
In Wien schicken u.a. das Blue Orange, 25 hours, der Dachboden, Amacorde und auch das Upcycling-Projekt Garbarage regelmäßig Milchringe an Jörg. Mit Garbarage würde er gerne ein Projekt starten. „Man könnte das Milchringsammeln professionalisieren und generalstabsmäßig planen und für die Mitarbeiter welche den Milchring in der Öffentlichkeit vertreten eine Milchring-Uniform schneidern.“
Milchringe sammeln
Milchringsammler können auf der Webseite die Sammelbox bestellen und finden Informationen, wie sie die gesammelten Milchringe weitergeben können: Milchringe an Jörg Gottschalk schicken, bei einem Event abliefern, etc.
„Ideen gibt es viele“, sagt er. Nimmt noch einen Schluck Bier und packt in seinem Ottakringer Atelier in Kunst transformierte Milchringe in eine Schachtel. Sie geht als Danke-Schön zu einer Chiemseer Bäckerei, die 18 Monate lang Milchringe gesammelt hat. Die Milchring-Freunde werden regelmäßig zu Salons eingeladen. Zur Milchring-Vernetzung sozusagen.
Am 21. September 2014 ab 16.00 Uhr: Im Rahmen der Wienwoche findet in der Bunkerei im Augarten ein Event unter dem Titel „Liebe und Migration“ statt. Dort werden Milchringe zu Hochzeitsringen einer „Massenhochzeit“ transformiert. Das Ritual beginnt um ca. 17Uhr.