Legenden

In Raucherbereichen geht es zu, wie früher im Schulhof. Man weiß nie, wen man gerade antrifft, der Platz ist begrenzt und die Menschen müssen interagieren.

„Robert De Niro ist eigentlich ein dummer Mensch“, sagt der Eisrinnenmann und fügt gleich hinzu: „Das erzählt man sich so in den Insider-Kreisen von Hollywood.“
Blöd nur, dass wir gerade dichtgedrängt im Raucherkammerl der Fürstin stehen, und ihm sofort Robert De Niro, der jedes Wort mitgehört hat, von hinten auf die Schulter klopft, um in seinem breiten Kärntner Dialekt Protest einzulegen.
Der Pianischt grinst von Ohr zu Ohr, weil er in diesem Moment gneißt, dass er den Eisrinnenmann ab sofort los ist. Die letzte halbe Stunde hat ihm dieser einen Monolog über die Vorzüge und Nachteile sämtlicher Eisrinnen Tirols gehalten. Noch dazu auf Tirolerisch. Ziemlich ungewöhnlich für einen Wiener, hier geboren, hier sozialisiert, aber große Teile seiner nun schwindenden Dreißiger hat er eben im vergletschterten Teil des Heiligen Landes verbracht. Da lernt man die Sprache und wird Teil der Kultur. Mit Gletscher und Eisrinnen hat der Pianischt aber überhaupt nichts am Hut, obwohl geborener Heiligländer, vielleicht aber gerade deshalb. Nicht umsonst ist er in die Hauptstadt geflüchtet. Beim Eisrinnenmann ist es gerade umgekehrt.

„Trotzdem“, sagt der Pianischt, „Tourischt bleibt Tourischt und a Wiena isch a Wiena“.
„Sicher“, sage ich. Vom Monolog habe ich zuletzt wenig mitgekriegt, bin viel zu sehr von dem Bild im Eck daneben fasziniert. Ein Machertyp sitzt vor sich hinstarrend bei einer Flasche Billigsekt (den die Fürstin sehr teuer verkauft), links von ihm eine weit überschminkte Endvierzigerin mit betonierter Frisur und elendslangen roten Plastiknägeln, die ihm ständig die Zunge ins Ohr schiebt, aber keine Reaktion von ihm erhält. Mag er nun tagsüber Autohändler, Vertreter oder Funktionär sein, die große Macheruhr am Handgelenk und die Goldkette über dem Hemd erzählen viel über Geld und noch mehr über Geschmack. Dort wo die Goldkette endet, steht ihm das Hemd offen und gibt den Bauchnabel frei. Der Überschminkten scheint’s zu gefallen.

„Wie seid ihr von den Eisrinnen nochmal auf Robert De Niro gekommen?“, frage ich.
„Des woarsch i nit, han nit zuag’hert“, sagt der Pianischt, beugt sich hinüber zum Tisch und fragt die Sekttrinker nach Feuer.
Der Macher schaut böse. „Da draußen kannst den Kellner nach an Feuer fragen. Des da kriegst net.“ Er wachelt mit einem goldenen Mordstrumm.
„Des do wüll i a nit“, erwidert der Pianischt, „des is schiach. Hascht koa anderesch?“
Der Macher verfinstert seinen Blick und erhebt sich. Er öffnet den Mund, weiß aber nichts zu sagen. Der Pianischt erhält Feuer von der Fürstin persönlich, die gerade weitere Billigbiere bringt und zufrieden lächelt, kosten die doch hier so viel, wie anderswo eineinhalb gute.
„Wia suull da Robert De Niro a bleeda Mensch sei“, redet Robert De Niro auf den Eisrinnenmann ein und grinst genau so, wie man es von der Leinwand kennt, „waunn a doch soou vuüü vaschiiedaane Roiin gspüüt hoot?“
Dem Eisrinnenmann fehlt nicht nur das Feuer, auch die Zigarette dazu, daher wendet er sich an den Macher.
„Da draußen steht ein Tschickautomat. Könnt’s ihr euch den nicht leisten?“, blafft dieser und steht wieder auf.
„You talkin’ to me?“, fragt Robert De Niro, ganz Taxidriver, noch nicht Raging Bull.
„Setz dich wieder nieder“, sage ich und schau böse.
„Bin i leicht a Tschickvaleih?“, grollt er und setzt sich tatsächlich. Die Überschminkte streicht ihm mit fünf Zentimeter langen Plastiknägeln beruhigend über den Bauch und beschmiert seine Wange mit ihrer Bräunungscreme.

„Waarat a a dummaa Mensch“, höre ich, „wia hattata si do je einifüüühn keeennan?“ Und überhaupt, was sei mit dem ganzen Paten, mit Scorsese und De Palma? Der Eisrinnenmann erzählt von einer mühsam mit Hacken und Steigeisen begangenen Schrägwand mit 60 prozentiger Steigung. Als er fast über den Kamm war, seien ihm zwei Tiroler auf Ski entgegen gekommen. Robert De Niro überzeugt das wenig.
Die Elbenfrau lächelt ihr Elbenlächeln, beobachtet angetan das Ensemble, und freut sich über die erste mit uns durchsoffene Nacht. Ich hab’ nicht zu viel versprochen. Das hier hat was von Schulhof, man weiß nie, wer sich gerade einfindet. Der Platz ist äußerst begrenzt, die Menschen müssen interagieren.
Der Eisrinnenmann spricht nun ebenfalls Kärntnerisch. Auch dieses Land habe interessante Steilhänge und in den Wänden lerne man die Leute kennen. Robert de Niro ist nun bei method acting und Lee Strassberg, den beiden Oscars und überhaupt. Der Macher umgreift sein goldfarbenes Riesentrumm und gibt es sicher nie wieder aus den Fingern. Leistung muss sich schließlich auch lohnen, irgendwie.

Der Trinker würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Denn sein Bier schmeckt ihm nur in guter Gesellschaft. Ansonsten hält er es mit George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Geboren tief im Süden, im Jahre Woodstock, lebt er seit bald zwanzig Jahren in Wien. Wie alle „Zuagrasten“ aus der Provinz wollte er diese hier vergessen. Nüchtern gelingt das nur schwer, trägt doch jeder seine ganz persönliche Provinz mit in die Hauptstadt, wo sie dann auf die gelebte Provinz der Wiener trifft. Erst Alkohol weicht die Grenzen auf, beseitigt Hürden der Vernunft und lässt entstehen, was eine Weltstadt ausmacht: Freiheit. Er würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Trinken ist für ihn ein Spiel mit der Realität, Wahnsinn auf Zeit, Eintrittskarte zu einem Schauspiel, wo Absurdes Theater nüchternen Alltag von der Bühne fegt. Wenn dann Masken und Etikette fallen, wird alles möglich und der Mensch lässt sich nicht länger verstecken. Auf die Begleitung seines Hirns muss man dort verzichten, und der Bauch spricht eine völlig andere Sprache als der Kopf. Die wichtigsten Dinge im Leben, davon ist er überzeugt, muss man fühlen, rational lassen sie sich nicht erfassen. Wie also nüchtern diese Welt betreten, mit unseren durch Jahrtausende der Zivilisation verkümmerten Sinnen? Unmöglich! Was hätte die Menschheit ohne Alkohol schon vollbracht? Es gäbe wohl nur die halbe Kunstgeschichte, wahrscheinlich die schlechtere Hälfte. Grenzen sind Illusion, das hat er erkannt, aber auch, dass Grenzenlosigkeit in die Leere führt. Sein Bier schmeckt ihm erst in guter Gesellschaft, und ist sie wirklich gut, dürfen Runden auch weit länger dauern als bis zum frühen Morgen. Künstler, Lebenskünstler, echte Wiener und andere Wahnsinnige, sie alle bevölkern seine Reise entlang dem schmalen Grat zwischen Sucht und Abstinenz.