Zeitenwende

Fini ist so schön wie damals, nur ihre Zähne, die sind jetzt viel schöner. Es war ein langes 20. Jahrhundert, aber nun ist es endgültig und unwiderruflich Geschichte.

Fini hat sich die Achseln rasiert. Sie also auch. Als Letzte. Davon abgesehen wirkt sie kaum verändert, im Gegenteil, sogar gesünder. Es liegt an den Zähnen. Früher waren die dunkel. Nicht wegen mangelnder Hygiene. Putzen konnte sie so lange sie wollte, es blieb dabei – außen weiß, aber innen immer schwärzer. Das kam von den Drogen, sie hat wenig ausgelassen im Leben. Heute hingegen könnte sie Werbespots drehen mit ihrem Lächeln.
„Zum Rausnehmen“, sagt sie, „Männer lieben das, der beste Blowjob ihres Lebens“.
Kurz fällt mir der Verbissene ein, dann brauche ich ganz schnell ein weiteres Bier.

In den Neunzigern hatte Fini ein Lokal. Immer wenn die Nacht zu enden drohte, ging man damals in die Freibar, und dort ging sie noch eine ganze Weile weiter, manchmal den halben nächsten Tag lang. Die Freibar hatte was von Schrödingers Katze: war man nicht gerade drinnen, dann gab es sie nicht. Nüchtern wäre es einem nie in den Sinn gekommen, dorthin zu gehen, betrunken aber, war das immer eine verdammt gute Idee.

Finanzamt, Sozialversicherung und Anrainer haben ihr schließlich das Genick gebrochen. Nachfolger hat es nie gegeben – es war eben die Freibar und Fini war die Bar.
„Sing, Fini, sing!“, hab’ ich damals oft gerufen. Sie hatte eine schöne Jazz-Blues-Stimme und ziemliche Freude daran. Der Suspekte Pole ist da ganz anderer Meinung. Als ich ihm neulich erzählte, ich hätte sie wiedergetroffen, meinte er nur: „Damals hast immer g’sagt, sie soll singen. Furchtbar war das, und du hast sie immerzu aufg’husst, du Oasch!“
Wie auch immer, kurzzeitig hatte ich sogar was mit ihr, doch da regierte in Russland noch Boris Jelzin, in den Hochalpen besuchte der Pianischt die Oberstufe, und ich war in Wien bloß häufiger Besucher. Zehn Jahre später aber war ich Stammgast, immer dann, wenn es noch nicht genug war, wenn es galt, einer lauwarmen Nacht noch einmal einzuheizen.

Ganz bei sich war Fini nie, wollte immer tanzen, und wenn sie mal ausrutschte, ihre Kellnertasche aufsprang, und sich das ganze Kleingeld über den Boden verteilte, dann war ihr das egal. Zu stolz zum Aufsammeln, vertraute sie darauf, dass es dank ihrer Gäste ohnehin wieder in ihre Tasche kam. Verrechnet hat sie immer sehr kreativ und individuell. Einmal war sie allzu liebesbedürftig, ich hingegen treu. „Schau, Fini, Frischfleisch!“, hab’ ich damals gerufen, und ihr den Verbissenen zugeschoben. Als höflicher Mensch, der er ist und war, hat er mit ihr getanzt, eng, umwoben von ihrem Cannabis-Atem und Pheromonen auf jedem Körperhaar. Was weiter passierte, weiß ich nicht, bin irgendwann vom Barhocker gefallen, und der nächste Tag begann am frühen Abend. Seither wischt der Verbissene das Thema konsequent vom Tisch, noch ehe ich’s richtig ansprechen könnte. Dabei schüttelt er sich immer. Einmal nur meinte er, es seien die ersten und letzten behaarten Achselhöhlen seines Lebens gewesen. Immer schon war er zehn Jahre jünger als ich, wenn auch nur physisch.
So richtig bewusst wurde mir die Sache eigentlich erst, als ich von den Dreharbeiten zum Jubiläums-Film Taking Woodstock gelesen habe. Sie wollten völlig authentisch bleiben und hatten auch kein Problem damit, langhaarige, hygienisch herausgeforderte Statisten zu finden. Was es allerdings nicht mehr gab, waren passende Menschen mit Achselhaar. Dafür mussten sie dann eigene Toupets austeilen.

Historiker sprechen von einem „Langen 19. Jahrhundert“ und lassen es bis zum Ersten Weltkrieg dauern. Das Lange 20. wird vielleicht einmal im Rückblick mit, was weiß ich, dem Ausbruch des Weltfriedens 2016 enden. Für mich aber endete es ganz eindeutig mit dem Fall des letzten Finischen Achselhaares irgendwann im letzten Jahr.

Der Trinker würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Denn sein Bier schmeckt ihm nur in guter Gesellschaft. Ansonsten hält er es mit George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Geboren tief im Süden, im Jahre Woodstock, lebt er seit bald zwanzig Jahren in Wien. Wie alle „Zuagrasten“ aus der Provinz wollte er diese hier vergessen. Nüchtern gelingt das nur schwer, trägt doch jeder seine ganz persönliche Provinz mit in die Hauptstadt, wo sie dann auf die gelebte Provinz der Wiener trifft. Erst Alkohol weicht die Grenzen auf, beseitigt Hürden der Vernunft und lässt entstehen, was eine Weltstadt ausmacht: Freiheit. Er würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Trinken ist für ihn ein Spiel mit der Realität, Wahnsinn auf Zeit, Eintrittskarte zu einem Schauspiel, wo Absurdes Theater nüchternen Alltag von der Bühne fegt. Wenn dann Masken und Etikette fallen, wird alles möglich und der Mensch lässt sich nicht länger verstecken. Auf die Begleitung seines Hirns muss man dort verzichten, und der Bauch spricht eine völlig andere Sprache als der Kopf. Die wichtigsten Dinge im Leben, davon ist er überzeugt, muss man fühlen, rational lassen sie sich nicht erfassen. Wie also nüchtern diese Welt betreten, mit unseren durch Jahrtausende der Zivilisation verkümmerten Sinnen? Unmöglich! Was hätte die Menschheit ohne Alkohol schon vollbracht? Es gäbe wohl nur die halbe Kunstgeschichte, wahrscheinlich die schlechtere Hälfte. Grenzen sind Illusion, das hat er erkannt, aber auch, dass Grenzenlosigkeit in die Leere führt. Sein Bier schmeckt ihm erst in guter Gesellschaft, und ist sie wirklich gut, dürfen Runden auch weit länger dauern als bis zum frühen Morgen. Künstler, Lebenskünstler, echte Wiener und andere Wahnsinnige, sie alle bevölkern seine Reise entlang dem schmalen Grat zwischen Sucht und Abstinenz.