Memoiren

Dreck ist ein Produkt verronnener Zeit, Symbol für die Vergänglichkeit, ebenso wie Streifen an der Wand; und gegen Ungeziefer hilft der Winter, wenn er denn nur käme.

„JOH!“, ruft der Pianischt und winkt, als er den Wirt erblickt.
„I a“, sage ich.
„Jojo“, sagt der Wirt.
Die siebente Runde oder gar schon die achte? Egal.
„Damals…“, beginnt der Pianischt.
„Welches Damals?“ , frage ich.
„Dieses Damals, als du damals die ungarische Gräfin…“ Wie üblich, lässt er für besonders betonte Sätze sein Tiroalarisch ruhen.
„Bitt’schön“, sagt der Wirt.
„Danke“, sagen wir.
„Hollywoodschtar hat s’ zu dir g’sockt“, sagt der Pianischt.
„Da war ich noch jünger“, sage ich.

„Schnickschnack! Kennscht du des: Es gibt Tage, da siegscht nur schiaghe Leit‘. Und es gibt Tage, da rennen nur schiane rum. Isch eine Frage der Perspektive. Schau, die Frau Lehmann letztscht‘ns. Zerscht war ma im Alt Wien, dann im Einhorn, dann in da Gräfin und dann im Drechsler. Was soll i sag’n – sie wurde immer schöner! Am Schluss wollt s‘ noch mit zu mir, aber momentan lass‘ i niemand in die Wohnung. ‚Kann di nur einilassen’, han i zu ihr g’sagt, ‚wann i di in da Küch’ stehen lass, und i vorher schnell noch das Klo putz’. Dann isch mir eing’fallen, dass die Küch’ mindescht’ns gleich schlimm ausschaut. Draußt hat’s g’regnat und ihr war kalt, also warat des a nix g’wesen, so im Park. Wascht, wann i as letschte Mal z’sammg’ramt han? Das war vor Russland!“

Russland ist wirklich schon lange her.
„Und dann de ganzen Straf’n an da Wand über da Waschmaschin’. Des schaut wirklich scho ziemlich unguat aus.“
„Streifen?“, frage ich.
„Na wannscht mit an G’wand auf und ob reibst, dann siacht ma des an da Wand… es war scho a schiane Zeit.“

Kurz stehe ich auf der Leitung, dann stelle ich mir die äußerst beengte Wohnung des Pianischten vor. War die M. bei ihm, und die M. gab’s wirklich sehr lange, wollte die nicht immer nur ins Bett. Dann blieb noch der Tisch, falls nicht gerade mit Notenblättern und Weinflaschen vollgeräumt, und eben die Waschmaschine. Aber auch die M. ist wirklich schon lange her.
„Vor zehn Tagen isch mir a Glasl obig’fallen. Geschtern han i mir so a Zehn-Tag-Glasscherb’n eintreten. Na, i muass jetscht echt bald putz’n, weil wenn dann im Fruajohr de Viecher kemman, und de amal da sind, dann kriegscht as nimmer mehr weg. Wär’s wirkli Winter, wär’s ja wurscht, i han eh ka Hazung. Aber solang ’s net g’friert, isch des a Jammer. JOH!“
„I a“, sage ich.
„Jojo“, sagt der Wirt.

Der Trinker würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Denn sein Bier schmeckt ihm nur in guter Gesellschaft. Ansonsten hält er es mit George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Geboren tief im Süden, im Jahre Woodstock, lebt er seit bald zwanzig Jahren in Wien. Wie alle „Zuagrasten“ aus der Provinz wollte er diese hier vergessen. Nüchtern gelingt das nur schwer, trägt doch jeder seine ganz persönliche Provinz mit in die Hauptstadt, wo sie dann auf die gelebte Provinz der Wiener trifft. Erst Alkohol weicht die Grenzen auf, beseitigt Hürden der Vernunft und lässt entstehen, was eine Weltstadt ausmacht: Freiheit. Er würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Trinken ist für ihn ein Spiel mit der Realität, Wahnsinn auf Zeit, Eintrittskarte zu einem Schauspiel, wo Absurdes Theater nüchternen Alltag von der Bühne fegt. Wenn dann Masken und Etikette fallen, wird alles möglich und der Mensch lässt sich nicht länger verstecken. Auf die Begleitung seines Hirns muss man dort verzichten, und der Bauch spricht eine völlig andere Sprache als der Kopf. Die wichtigsten Dinge im Leben, davon ist er überzeugt, muss man fühlen, rational lassen sie sich nicht erfassen. Wie also nüchtern diese Welt betreten, mit unseren durch Jahrtausende der Zivilisation verkümmerten Sinnen? Unmöglich! Was hätte die Menschheit ohne Alkohol schon vollbracht? Es gäbe wohl nur die halbe Kunstgeschichte, wahrscheinlich die schlechtere Hälfte. Grenzen sind Illusion, das hat er erkannt, aber auch, dass Grenzenlosigkeit in die Leere führt. Sein Bier schmeckt ihm erst in guter Gesellschaft, und ist sie wirklich gut, dürfen Runden auch weit länger dauern als bis zum frühen Morgen. Künstler, Lebenskünstler, echte Wiener und andere Wahnsinnige, sie alle bevölkern seine Reise entlang dem schmalen Grat zwischen Sucht und Abstinenz.