Die Relevanz des Mertesacker-Interviews
Warum die pampigen Antworten eines Fußballspielers für das am öftesten angeklickte Video im Internet sorgten. Jürgen Preusser über die Relevanz des Mertesacker-Interviews.
Kein falscher Elferpfiff, kein aberkanntes Tor und keine Schwalbe von Robben bewegten die Fußball-Fans so sehr wie das Interview des ZDF-Reporters Boris Büchler mit dem deutschen Fußballspieler Per Mertesacker. Warum nur? Es gibt doch so viele Themen, die bedeutend wichtiger sind als die Fußball-WM: Israel, Isis, Ukraine, Mindestlöhne, marode Banken…
Die Antwort ist einfach: Weil es eben nicht um Fußball geht. Darum reißen die Facebook-Postings zu den schnoddrigen Antworten des Verteidigers und zu den angeblich so respekt- und gefühllosen Fragen des Reporters nicht ab. Darum knöpfen sich auch politische Köpfe das Thema vor, egal ob sie für Die Presse, die Frankfurter Allgemeine oder die TAZ schreiben. Weil es nämlich auch um sie selbst geht. Und um ihre Berufung.
Büchler hatte es gewagt, eine zaghaft kritische Frage zu stellen. Und er hakte nach, nachdem der Fußballer darauf unwirsch reagiert hatte. Das passte nicht ins System. Weder in die Schönfärberei der FIFA, die die Regisseure der TV-Vertragspartner angewiesen hat, Flitzer, Demonstranten oder soziale Missstände auszublenden. Noch in die PR-Strategie der großen Fußball-Teams.
Zur Erklärung: Die FIFA stellt die Werbetafeln auf, vor denen Interviews geführt werden dürfen. Die FIFA verlangt von ihren Vertragspartnern (in diesem Fall vom ZDF), wann und wo so ein Interview stattzufinden hat. Es ist keineswegs erwiesen, ob die Reporter von sich aus nicht das Fingerspitzengefühl hätten, ein paar Minuten zu warten.
Mir kommt die Mertesacker-Reaktion ein bisserl so vor wie jene der Adeligen, die sich über Paparazzi aufregen: Solang der Reporter oder Fotograf als PR-Trottel nützlich ist, darf er ungestraft fragen oder fotografieren. Verlässt er diese Schiene durch einen kaum wahrnehmbaren Anflug von Kritik oder durch ein ach so privates Foto, kann er – auf gut Wienerisch – scheißen gehen.
Institutionen aller Art halten Medien aller Art längst für einen Teil ihrer PR-Maschinerie. Das hat mit Fußball nichts zu tun. Parteien tun es, die EU tut es, Putin tut es, die Waffen-Lobbyisten tun es, Weltverbände wie die UNO oder die FIFA tun es, Bernie Ecclestone tut es, Pharmakonzerne tun es, Monsanto tut es, Sportvereine tun es. Das Prinzip ist sehr einfach: Der Reporter kriegt ein paar Strahlen vom Rampenlicht ab, dafür hat er gefälligst zu spuren. Er darf entsprechen. Nicht sprechen. Hält er sich nicht an diese Regel, wird er gnadenlos gemobbt.
Bleibt der Reporter systemkonform, darf er mit einem passablen Gehalt und Folgejobs rechnen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Journalisten, die im System funktionieren, haben es auch wirtschaftlich leichter.
Das Mertesacker-Interview führt uns vor Augen, dass kritische Menschen keine Lobby haben. Arschkriecher hingegen schon. Die Strategie geht auf: Nachdem immer mehr Konzerne, Parteien und Verbände sogenannte Partnermedien haben, wird der Systemjournalismus von Tag zu Tag dominanter.
Junge Journalisten, die glauben, eine kritische Ader zu haben und vielleicht gerade deswegen diesen Beruf ergriffen haben, müssen sehr schnell erkennen, dass sie als Content-Manager der PR-Maschinerie weit bessere Karriere-Chancen vorfinden denn als unbequeme Poltergeister. Da geht es längst nicht mehr darum, ob eine Fußballmannschaft gut oder schlecht gespielt hat, sondern um Missstände, soziale Ungerechtigkeit, Korruption, vertuschte Skandale und Betrug abseits der Unterhaltungsbranche Fußball.
Das Problem ist nicht neu: „Journalismus bedeutet, dass etwas gedruckt wird, von dem jemand nicht will, das es gedruckt wird. Alles andere ist Public Relations.“ (George Orwell) Oder: „Ich glaube nicht, dass eine harte Frage respektlos ist.“ (Helen Thomas).
Genau darum ist der Fall Büchler/Mertesacker relevant. Auch wenn Fußball nur Nebensache ist.
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