Perverse Videospiele
Theatralisch: Die Fußballwelt wird nie wieder so sein, wie sie vor der WM in Russland war. Analytisch: Mit der WM 2018 ist viel von dem zu Ende gegangen, was den Fußball ausmacht. Staubtrocken: Der Fußball wird immer unsympathischer.
„Stimmt nicht!“, werden eingefleischte Fans jetzt schreien. Viele Tore, viel Kampf, nur ein einziges 0:0, große Persönlichkeiten, viele Überraschungen, geniale Techniker und ein würdiger Weltmeister. Ja und endlich ist er da, der heiß ersehnte Videobeweis!
Heiß ersehnt? Dem Vernehmen nach steht „Playstation“ vor einem unlösbaren Problem: Wie baut man den unvollkommenen Videobeweis nach Schiedsrichter-Fehlentscheidungen in ein Videospiel ein? Es kann doch nicht sein, dass ein hochmodernes Videospiel gerechter und gleichzeitig altmodischer ist als der echte Sport.
Doch. Es kann.
Die Verherrlichung dieser WM ist schwer überzeichnet: Viele Tore gab es unter anderem deshalb, weil eben der Videobeweis ein paar Elfmeter hervorbrachte, die früher niemals gegeben worden wären. Auch, weil diese Elfer – zugegeben zu einem geringen Teil – gar nicht zu geben gewesen wären. Die Berührung des Balles mit der Hand ist Handspiel. So will es die Regel. Doch wohin soll sich ein Spieler seine Hände stecken, damit er einen Ball nicht zufällig berührt? Der Versuch, mit angelegten Armen eineinhalb Meter hoch zu springen, endet im besten Fall mit einem Kopfballtor für den Gegner, im schlimmsten Fall mit Genickbruch.
So ein regelkonformer Elfmeter nach Videobeweis hat übrigens das Finale zu Gunsten Frankreichs und gegen Kroatien entschieden. Regelkonform, aber vertrottelt. Denn einen Sekundenbruchteil später hätte der daherfliegende Kroate den Ball mit der Hüfte ins Torout befördert. So aber wurde ihm per Videobeweis ein Vergehen nachgewiesen, das den Spielverlauf in keiner Weise beeinträchtigt hatte.
Übrigens eine doppelte Ungerechtigkeit. Denn zuvor hatte es in einer anderen Szene – ebenso regelkonform – keinen Videobeweis gegeben. Griezmann, der angeblich beste Franzose, hatte eine klassische Schwalbe hingelegt. Der Schiedsrichter war auf diese Schauspieleinlage reingefallen. Da sich die Szene jedoch außerhalb des Strafraums ereignet hatte, gab es keinen Videobeweis. Dieser hätte folgende Korrektur erfordert: Gelbe Karte für den Franzosen und Freistoß für Kroatien. So aber verwandelte besagter Griezmann den ungerechtfertigten Freistoß zum 1:0 für Frankreich.
Schuld an dieser Ungerechtigkeit ist weder der Schiedsrichter, noch Griezman, noch jener Kroate, der den Ball zu allem Überfluss ins eigene Tor abfälschte, noch das stattliche und kostspielige Video-Schiedsrichter-Team. Schuld ist die FIFA, der Fußball-Weltverband, der in überschäumender Selbstherrlichkeit fast ausschließlich kuriose Entscheidungen trifft. Das ist etwa so absurd, als würde Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt werden… Oooops!
Die Regel lautet: Videobeweis ja, aber nur für spielentscheidende Strafraumszenen…
Wie bitte?
Wozu gibt es dann Freistöße außerhalb des Strafraums, wenn nicht ab und zu ein Tor daraus entstehen soll? Übrigens fielen bei dieser WM einige durchaus entscheidende Tore auch nach ungerechtfertigten Eckbällen. In diesen Fällen ist ebenfalls kein Videobeweis vorgesehen.
Die FIFA hat unter enormem Aufwand eine halbherzige Wischi-Waschi-Regel in die Tat umgesetzt, die den Fußball noch viel ungerechter macht. Die Konsequenz kann nur lauten: Wenn schon Videobeweis, dann ordentlich. Und zwar in jeder strittigen Situation. Oder eben gar nicht. Denn es kann sehr wohl entscheidend sein, ob ein Einwurf für die Blauen oder die Roten gegeben wird. Es kann sehr wohl entscheidend sein, ob ein Gelber eine oscar-verdächtige Schauspieleinlage hinlegt, oder ob er sich nach einem Ellbogen-Check mit gebrochener Nase auf dem Boden wälzt. Es kann sehr wohl entscheidend sein, ob ein Grüner knapp hinter der Mittellinie mit einer Arschbacke im Abseits steht, oder eben nicht.
Die FIFA wird diesen Unsinn natürlich nicht so schnell korrigieren, ist ja stolz darauf und lässt sich von vielen Berichterstattern dafür auch noch feiern. In the meantime hat sie die nächsten Weichen falsch gestellt: 2022 findet die Endrunde in Katar statt. Auf einer Fläche, die etwas kleiner ist als Oberösterreich, werden acht hoch moderne Stadien stehen. Diese werden jeweils zwischen 45.000 und 80.000 Zuschauer fassen. Zwei gibt es schon länger – diese wurden und werden komplett renoviert. Die anderen sechs wurden und werden komplett neu errichtet. Obwohl alle Stadien voll klimatisiert sein werden, kann die WM nicht wie üblich im Sommer stattfinden, sondern im Winter. Und zwar von 21. November bis 18. November 2022. Advent, Advent, der Fußball brennt…
Katar erhielt den Zuschlag durch Korruption innerhalb der FIFA und fehlende Transparenz. Die Menschenrechtslage in Katar ist nach Einschätzung der westlichen Welt skandalös. Die Arbeitsbedingungen am Bau sprengen die Grenze zur Sklaverei. Laut Agenturberichten sind bereits über hundert Arbeiter beim Bau der Stadien ums Leben gekommen. Eine Reihe arabischer Länder haben 2017 die Beziehungen zu Katar abgebrochen, weil dem Königreich Unterstützung des internationalen Terrors vorgeworfen wird. Katar hat weltweit den bei weitem höchsten CO2-Ausstoß pro Kopf zu verzeichnen. Homosexualität ist strafbar.
Abgesehen davon hat der Halbinsel-Staat nur 2,7 Millionen Einwohner und keine ernstzunehmende Fußball-Tradition aufzuweisen. Die Nationalmannschaft der Erbmonarchie lag im Juli 2018 auf Rang 113 der Weltrangliste.
Während der WM 2018 wurde bereits kritisch angemerkt, dass Migranten der ersten bis dritten Generation als hoch bezahlte Fußball-Helden gefeiert werden, während europäische Regierungen Flüchtlingskinder im Mittelmeer ertrinken lassen. Diese Scheinheiligkeit ist tatsächlich grenzüberschreitend, doch gleichzeitig ein positives Signal für die Unaufhaltsamkeit einer europäischen Multi-Kulti-Gesellschaft. Und wie pervers ist dann erst eine WM in Katar? Für jemanden, der sich die unvorstellbare Korruption der FIFA in der unrühmlichen Ära des Schweizer Präsidenten Sepp Blatter doch irgendwie vorstellen kann, ist das gar nicht so pervers, sondern völlig logisch.
Die Blatter-Zeit ist vorbei. Ob sich die Zustände unter dem Vorsitz des schweizerisch-italienischen Juristen Gianni Infantino allerdings bessern, gilt als überaus umstritten. Freundlich ausgedrückt ist seine bisherige Handlungsweise kontroversiell. Kanada, die USA und Mexiko erhielten den Zuschlag für die WM 2026. Infantino werden spezielle finanzielle Interessen in den USA nachgesagt, weshalb er die Bewerbung Marokkos von Anfang an torpediert haben soll. Positiver Nebeneffekt: Sollte Trump nicht die Verfassung ändern, wird er 2026 nicht mehr Präsident sein.
Die WM 2026 ist übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass keiner der abgehobenen FIFA-Protagonisten den Hals voll bekommen kann: Die Endrunde wurde von 32 auf 48 Teams aufgestockt. Eine Maßnahme, die kein einziger echter Fußball-Fan je für sinnvoll oder gar erstrebenswert gehalten hätte.
Für all jene, die sich ohnehin nur alle vier Jahre ein bisserl für Fußball interessieren: Es wird noch verwirrender und unübersichtlicher. Doch vielleicht haben gerade diese Gelegenheitsfans sowieso schon das Interesse verloren. Vielleicht gerade weil sie bei der WM 2018 zu oft zugeschaut haben. Unter anderem, weil sich Superstars wie Neymar nach lächerlichen Körperberührungen minutenlang im Gras herumwälzen. Unter anderem, weil permanent zum Tormann zurückgespielt wird. Unter anderem, weil einige Spieler nationalistischen Revanchismus offen zur Schau gestellt haben, ohne dafür bestraft zu werden. Vielleicht sind Videospiele inzwischen tatsächlich näher an der Realität als der echte Fußball.