Naschmarkttod

Warum der beste Saufkumpan vom Trinker einfach nicht zum schlafen kommt.

„Wahnsinn!“, sagt der Pianischt, denkbar bester Saufkumpan seit langer Zeit, und fährt sich mit den Fingern durch die Beethoven-Frisur. „Wahnsinn! Heut’ war der Tag der Halbjährlich-nicht-mehr-getroffenen-Frauen.“ Die Tage des Pianischten dauern oft halbe Wochen.

„Zerscht mit da Susi ausg’macht, wascht eh, die Bastelfrau. Kaffee am Naschmarkt. Dann ruft die Hundefrau an. Hab’ natürlich net abg’hoben. Dann rennt a Tirolerin vorbei, de i a kenn. Und wascht wer sich dann meldet? Die Ingrid, die Selbstmordfrau! Sie hat’s scho wieder probiert. Eine Woche nix g’essen, und dann noch irgendwelche Pulverl zum Einschlafen. Hab dann nit weiter nachg’fragt. Des macht s’ jetzt jedes Jahr, will ja nit wirklich sterben, nur rumzicken. Am End’ hat’s wieder der Nachbar g’funden. Heuer a bissl später, weil er auf Urlaub war. Das hat s’ nit g’wusst. War dann wochenlang in Steinhof, jetzt hat s’ ang’fangen wieder ausgehen. Und heit kimmt a SCHMS: hi, bist unterwegs? Als ob nix war! Aber die isch mir zu zach, zuckt auch immer so komisch wie die Sarah. Und dann nachher, mei nachher… die Moni! Wascht eh, die Ballettfrau! Ich sag nur: Sex! Auf! Der! Straße!“ Wenn er etwas betont, erhebt der Pianischt seinen Zeigefinger und verfällt vom Dialeckt! in die Schriftsprache. „Und wie geht’s dir a so? Aha, die Neue mag rohen Fisch. Da kunnts ja mal nach Irkutsk fahr’n. Da gibt’s den Omul, eine Art, die find’scht nur im Baikalsee. Da bohrscht a Loch ins Eis, hebscht den Omul aussa, ischt’n selber oder hauscht’n wieder weck… egal! Übrigens: Mit da Tirolerin han i amal in Tirol was g’habt. Aber da war i no Tiroler… Jetscht bin i den fünften Tag in Folge unterwegs, vielleicht sollt’ i amal g’scheit schlaf’n.“

Sein Handy läutet, er greift zu. „Na, i han eh Zeit. Mach ma am Naschmarkt, auf an Kaffee?... Passt!“ Er steckt das Handy weg. „Ma, wascht wer des jetzt war? Die Autofrau! Wascht eh, wos beim Audi arbeit’! De han i a scho lang nimmer g’sehn. Schlaf’n isch eh fad… so auf die Dauer.“

Der Trinker würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Denn sein Bier schmeckt ihm nur in guter Gesellschaft. Ansonsten hält er es mit George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Geboren tief im Süden, im Jahre Woodstock, lebt er seit bald zwanzig Jahren in Wien. Wie alle „Zuagrasten“ aus der Provinz wollte er diese hier vergessen. Nüchtern gelingt das nur schwer, trägt doch jeder seine ganz persönliche Provinz mit in die Hauptstadt, wo sie dann auf die gelebte Provinz der Wiener trifft. Erst Alkohol weicht die Grenzen auf, beseitigt Hürden der Vernunft und lässt entstehen, was eine Weltstadt ausmacht: Freiheit. Er würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Trinken ist für ihn ein Spiel mit der Realität, Wahnsinn auf Zeit, Eintrittskarte zu einem Schauspiel, wo Absurdes Theater nüchternen Alltag von der Bühne fegt. Wenn dann Masken und Etikette fallen, wird alles möglich und der Mensch lässt sich nicht länger verstecken. Auf die Begleitung seines Hirns muss man dort verzichten, und der Bauch spricht eine völlig andere Sprache als der Kopf. Die wichtigsten Dinge im Leben, davon ist er überzeugt, muss man fühlen, rational lassen sie sich nicht erfassen. Wie also nüchtern diese Welt betreten, mit unseren durch Jahrtausende der Zivilisation verkümmerten Sinnen? Unmöglich! Was hätte die Menschheit ohne Alkohol schon vollbracht? Es gäbe wohl nur die halbe Kunstgeschichte, wahrscheinlich die schlechtere Hälfte. Grenzen sind Illusion, das hat er erkannt, aber auch, dass Grenzenlosigkeit in die Leere führt. Sein Bier schmeckt ihm erst in guter Gesellschaft, und ist sie wirklich gut, dürfen Runden auch weit länger dauern als bis zum frühen Morgen. Künstler, Lebenskünstler, echte Wiener und andere Wahnsinnige, sie alle bevölkern seine Reise entlang dem schmalen Grat zwischen Sucht und Abstinenz.