Carlsens rechte Augenbraue
Es ist spannend, wenn man förmlich sieht, was sich im Inneren eines Kopfes abspielt. Das Schachbrett ist lediglich ein Spiegel dessen.
Jemandem beim Denken zuschauen, stundenlang. Ist das nicht ähnlich sinnlos, wie Gras wachsen hören zu wollen? Man kann zwar beobachten, wie jemand aussieht, wenn er überlegt, aber Rückschlüsse auf seine Gedanken lässt das nicht zu. Oder doch?
Schach spielt sich im Inneren des Kopfes ab, nicht am Brett. Angestellte Berechnungen jagen durch die Synapsen, ein sichtbares Schlachtfeld braucht es eigentlich gar nicht. Man kann auch blind spielen, also ohne die Figuren vor sich zu haben. Das ist natürlich anstrengender, allerdings nicht unmöglich – ein großer Unterschied etwa zu Fußball oder Tennis, wo ohne Sportgerät nichts geht.
Dort hat man als Zuseher in erster Linie den Ball im Auge. Die Dramaturgie des Matches und die schnellen Bewegungen lassen kaum Zeit, den Spielern selbst einen Blick zu widmen. Dafür hat das Fernsehen Wiederholungen und Zeitlupe erfunden. Einen entscheidenden Zug beim Schach wieder und wieder in Super Slow Motion zu zeigen, wäre einmalig ein guter Gag, generell aber lächerlich. Das Nehmen, Bewegen und Absetzen der Steine besitzt im Grunde keinerlei Relevanz. Umso interessanter ist hingegen die Mimik der Spieler. Diese lässt sich nicht so einfach kontrollieren, daher bildet sich in ihr ab, was im Inneren der Kontrahenten vorgeht.
Jeder Hobbyhölzlschieber kennt das. Wenn der Gegner den Kopf schüttelt, weil er mit seiner Stellung offensichtlich unzufrieden ist, wirkt das aufbauend. Es geht aber noch viel subtiler: Zusammengekniffene Lippen, gesenkter Blick, ein auffälliges Heben der rechten Augenbraue – alles Gesten, die einen bevorstehenden Angriff, Niedergeschlagenheit oder Verwunderung ausdrücken. Dieses Wechselbad der Gefühle kann interessanter sein als die pure Partie in Form der Figurenmanöver.
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Unter den Topleuten, die eher ein Pokerface zu bewahren vermögen als Otto Normalschachspieler, gibt hier wieder einmal Magnus Carlsen besonders viel her. Der Jungstar, den ich hier vor einem Jahr als idealen, weil coolen Werbeträger des Königlichen Spiels gepriesen habe, knotzt unverschämt leger vor dem Brett, verengt die Augen konzentriert zu Schlitzen oder knallt fast den Kopf auf die Tischplatte, wenn er nicht fassen kann, welchen Blödsinn er gerade verzapft hat. Carlsen verteidigt derzeit seinen Weltmeistertitel, und ihm gegenüber sitzt der von ihm entthronte Viswanathan Anand, der in seiner Körpersprache keinen viel größeren Kontrast bilden könnte.
Das ist großes Kino; zumindest habe ich schon weit schlechtere Filme gesehen. Selbst Menschen, die sonst mit Schach nicht viel am Hut haben, erzählen mir, dass sie das Duell verfolgen, seit sie einmal reingeschaut haben. Es kann also tatsächlich fesselnd sein, jemandem stundenlang beim Denken zuzusehen. Nicht von ungefähr sitzen bei jeder einzelnen Partie 200 bis 300 Millionen weltweit vor TV- und PC-Bildschirmen.
Ein Gustostückerl erlebte das Publikum in der 6. Partie. Carlsen unterläuft ein schwerer Schnitzer, der selbst einem durchschnittlichen Vereinsspieler mit großer Wahrscheinlichkeit auffallen würde. Seine Reaktion ist typisch: Kaum hat er den Zug ausgeführt, bemerkt er sein Missgeschick und stockt beim Notieren. Leider gibt es die Szene nur als Nahaufnahme des Brettes, sodass man die Mimik der beiden Spieler nicht sehen kann. Anand erkennt Carlsens Patzer nicht als solchen und zieht auf einem anderen Teil des Bretts. Carlsen überlegt kurz, bis er ganz sicher ist, dass der Kelch an ihm vorübergegangen ist – dann lässt er den Kopf auf seine Arme fallen und vergräbt ihn darin. (Ähnliches ereignete sich heuer bereits einmal zwischen den beiden, wobei Anand den Fehler damals ausnützte. Der Ausschnitt – zwischen 3:56 und 5:30 – ist sehenswert, alleine des herrlichen Kommentars wegen.)
Meine wärmste Empfehlung: Schauen auch Sie sich das einmal an! Die nächsten Partien finden am 20. und 21. November statt, abhängig vom Resultat eventuell weitere am 23., 25. und 27. November. Der von Experten begleitete Live Stream startet jeweils um 13 Uhr. Eine ideale Zeit, um in der Arbeit nebenbei dabei zu sein.
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